Eis und Wasser, Wasser und Eis
wenden sich ab, und die drei Forscher konzentrieren sich wieder auf ihre Computer, nur um die Köpfe erneut zu heben und verwundert zu gucken, als der saure Sture summend an ihnen vorbeigeht. Es stimmt tatsächlich: Der saure Sture summt, und er summte Beethoven. Für Elise. Es klingt erbärmlich.
Vincent und Eduardo stehen mit ihrer Kamera auf dem vierten Deck. Eduardo hat sie aufs Stativ geschraubt, jetzt beugt er sich vor und stellt die Schärfe ein. Etwas Graues ist draußen auf dem Eis zu erahnen, er zoomt es heran, und die Konturen eines äußerst zufriedenen kleinen Seehunds treten hervor, der neben seinem Eisloch auf dem Rücken liegt und den Tag genießt.
»Guck mal«, sagt er zu Vincent und richtet sich auf. Vincent beugt sich vor und schaut durch das Objektiv, lächelt ein wenig.
»Den nehmen wir. Die Leute lieben Seehunde.«
Eduardo beugt sich wieder über die Kamera. Filmt. Und der Seehund bleibt mehrere Minuten dort liegen, es sieht aus, als posiere er, er klopft sich leicht mit der Flosse auf den Bauch, bewegt den Kopf, hält ihn etwas schief. Und als Eduardo zufrieden ist, dreht sich der Seehund um und robbt zu seinem Eisloch, taucht hinein und schickt einen letzten Gruß, indem er mit der Schwanzflosse winkt.
»Perfekt«, sagt Eduardo.
»Schön«, sagt Vincent und zündet sich eine Zigarette an.
Im Labor wird Viktor verziehen. Neue Messungen haben ergeben, dass der Quecksilbergehalt gleich hoch geblieben ist, ob er nun im Container war oder nicht. Also kann er nicht schuld an den hohen Werten sein, es muss einfach so sein, dass der Quecksilbergehalt im Meereswasser in gerade mal einem Jahr gewaltig angestiegen ist.
»Das müssen wir überprüfen«, sagt Ulrika mit ernster Miene. »Du musst dich wohl darauf einstellen, dass du bei weiteren Expeditionen dabei sein wirst.«
»Natürlich«, nickt Viktor. »Selbstverständlich.«
Dann dreht er sich um und beugt sich über einige Instrumente, nur um zu verbergen, dass er innerlich bebt. Nicht vor Begeisterung, das betont er sich selbst gegenüber. Auf keinen Fall. Niemand weiß besser als er, was Quecksilber für Folgen haben kann. Aber er wird in einem Jahr promovieren, und Ulrikas Satz kann nur eines bedeuten. Eine feste Anstellung anschließend. In ihrem Institut. Außerdem ist es einfach fantastisch, auf Expedition zu sein. Und jetzt darf er bei weiteren dabei sein.
Frida beugt sich vor und öffnet die Herdklappe, ein Duft von frisch gebackenem Brot breitet sich in der Kombüse aus. Sofia bleibt stehen und wischt sich die Hände an einem rot karierten Handtuch ab, schnuppert, saugt den Duft ein und genießt ihn einen Moment lang, bevor sie sich das Handtuch in den Hosenbund steckt und sagt:
»Weißt du, was ich gesehen habe?«
Frida stellt gerade das heiße Blech auf eine Edelstahl-Arbeitsfläche, Metall klappert gegen Metall.
»Nein.«
»Den Doktor und Ulrika. Sie haben sich draußen auf dem Vorderdeck geküsst.«
Frida fährt sich mit der Hand über die Stirn.
»Ach. Wie schön für sie.«
»Und dabei habe ich gedacht, der Doktor wäre verheiratet …«
Sofia fährt noch nicht so lange zur See. Dafür aber ihr Martin, den sie bald heiraten will. Frida kehrt ihr den Rücken zu, lässt nur ihr Lachen hören, als sie antwortet:
»Schon. Aber das zählt ja nicht, wenn man an Bord ist.«
Und dann ist es Zeit, das Mittagessen zu servieren.
Im Laufe des Nachmittags ziehen Wolken auf. Susanne schlägt ihren Jackenkragen hoch, als sie an Deck geht, trotzdem überläuft sie ein Schaudern, als sie die Handschuhe auszieht und eine Zigarette anzündet. Das ist eine neue Art von Kälte, eine feuchte, beißende Kälte, die sich unter die Haut der Finger schleicht und die Adern so schnell zusammenzieht, dass es fast wehtut. Sie beeilt sich, die Handschuhe wieder anzuziehen, stellt sich dann auf das Trittbrett am Bug und schaut sich um.
Die Welt verändert sich. Sie kann dabei zusehen.
Zuallererst erlischt die Sonne, sie gleitet hinter ein paar Wolken, und plötzlich ist das Licht nicht mehr weiß. Das Eis antwortet sofort, es wird grau, zunächst leuchtend hellgrau, dann immer matter, im Einklang mit den Wolken am Himmel, die immer dunkler werden. Die türkisfarbenen Schmelzwasserflecken werden auch dunkler, nehmen einen tieferen Farbton an, fast Dunkelblau, um dann binnen weniger Sekunden schwarz zu werden. Zeitgleich verschwindet der Horizont, Nebel und Dämmerung verdrängen den schwachen Strich am Rande der Welt, Sekunden später fängt
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