Eis und Wasser, Wasser und Eis
ihnen, auch wenn sie nie über ihn sprachen, nicht einmal seinen Namen erwähnten. Aber es gab ihn. Er, der von Anfang an dabei gewesen war. Er, der nicht starb. Er, der geopfert werden musste.
Vermissten sie ihn? Oder war er ihnen peinlich?
Sowohl als auch. So war es wohl. Zumindest was Tommy betraf, und das, was Tommy dachte und fühlte, das dachten und fühlten auch Niclas, Peo und Bosse. Andererseits wusste Tommy nur zu gut, dass sie ohne Björn nie dort wären, wo sie jetzt waren. Eine Band, die in den schwedischen Top Ten nicht nur an erster, dritter und siebter Stelle stand, sondern die außerdem auch noch auf der englischen Liste auf den siebzehnten Platz gerutscht war und am Samstag im Fernsehen sein sollte. Im englischen Fernsehen. In London.
Es war fast nicht zu glauben. Aber es stimmte. Und das hatten sie Björn Hallgren zu verdanken. Björn Hallgrens Stimme. Björn Hallgrens Gesicht. Björn Hallgrens Haar.
Und dennoch, manchmal war es ziemlich ermüdend, Björn Hallgren zu sein. Deshalb schloss er die Augen und schob alle Gedanken beiseite, konzentrierte sich nur noch auf seine vier Sinne: Geruch und Gefühl, Geschmack und Gehör. Dann brauchte er für eine Weile nicht mehr Björn Hallgren zu sein, sondern konnte er selbst sein, ein Mensch ohne Namen und Alter, ein Körper, der in diesem Haus gelebt hatte, solange er sich erinnern konnte, und jeden Morgen dessen Düfte eingeatmet hatte, dessen Fingerspitzen jede Oberfläche hier kannten, dessen Zunge sich an jeden Geschmack erinnerte, dessen Ohren jeden Schritt erkannten …
Jemand schlurfte draußen auf dem Flur vorbei, und plötzlich stand Birger mit einem Stapel blauer Schreibhefte unter dem Arm in der Türöffnung. Er zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Hier liegst du?«
»Ja.«
Eine Weile schwiegen beide. Birger lehnte sich gegen den Türrahmen.
»Geht es dir gut?«, fragte er schließlich.
»Ja.«
»Ist es so gekommen, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Nicht wirklich.«
»Nein«, sagte Birger. »Es kommt wohl nie wirklich so, wie man glaubt, dass es werden soll. Es kann schlechter oder besser werden, aber nie wirklich so …«
Björn schloss die Augen, äußerte seinen Einwand nicht. Denn manchmal wusste man ganz genau, was kommen würde. Beispielsweise wusste er, dass Birger stolpern würde, wenn er die Treppe hinunterlief.
»Nein«, sagte Birger und schob die Schreibhefte zurecht. »Ich muss wohl mal anfangen, diese Meisterwerke hier zu korrigieren.«
»Mmmm.«
»Na, dann …«
»Ja, bis dann.«
Björn lag mit geschlossenen Augen da und wartete. Birger machte fünf Schritte den Flur entlang bis zur Treppe. Es knarrte leise, als er den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte, dann klackten seine Ledersohlen – die eine viel größer als die andere – auf dem abgetretenen Holz der Treppe. Björn öffnete die Augen, zählte wortlos mit. Acht, neun, zehn …
»Hilfe! Oh! Verdammte Scheiße!«
Ein dumpfes Plumpsen, als Birger fiel, ein flatterndes Geräusch, als sich die Schreibhefte über den Flurboden verbreiteten. Björn schmunzelte in der Dunkelheit. Stimmte. Gewisse Dinge trafen genau so ein, wie man es vorhersah. Was hiermit bewiesen war.
»Entschuldigt die Wortwahl«, rief Birger. »Aber ich bin offenbar gestolpert.«
Niemand antwortete. Es war vollkommen still im Haus.
Und Inez, die Susannes Mutter war, aber nicht Björns, zog die Augenbrauen hoch, während sie die Butter in die Speisekammer stellte. Aha. Dann war es also mal wieder so weit. Stolpern. Fluchen. Entschuldigen.
Die Welt war nicht vollkommen neu. Gewisse Dinge waren ganz genau so, wie sie immer gewesen waren, obwohl Björn über Nacht zum Teenie-Idol geworden war. Birgers linker Fuß, der Schuhe der Größe 44 erforderte, legte sich immer noch ein paarmal in der Woche dem rechten in den Weg, der sich bescheiden mit der Größe 39 begnügte. Das war eine Tatsache, mit der es sich eigentlich leicht leben ließ, genau wie mit der Tatsache, dass er immer zwei Paar Schuhe gleichzeitig kaufen musste, ein Paar in jeder Größe. Dagegen war es nicht genauso leicht zu schlucken, dass dreizehn nie benutzte rechte Schuhe der Größe 44 und ebenso viele linke Schuhe der Größe 39 in einer Ecke des Kellers standen. Das kam immer mal wieder beim Essen zur Sprache. Die einzelnen Schuhe durften nämlich nicht weggeworfen werden. Man konnte doch nicht vollkommen neue und unbenutzte Schuhe wegwerfen, auch wenn man niemals für sie Verwendung finden würde, behauptete
Weitere Kostenlose Bücher