Eis und Wasser, Wasser und Eis
war nicht verschwunden. Er hatte nur den Platz gewechselt.
»Ich habe einen Sohn«, sagte sie.
Der Bootsmann zog die Augenbrauen hoch.
»Tatsächlich? Wie alt ist er?«
»Neunzehn.«
»Und du hast ihn seit über einem Jahr nicht gesehen?«
»Genau.«
Der Bootsmann ließ seine Kippe in die Fluten fallen.
»Ach so«, sagte er. »Dann verstehe ich.«
Eine Weile schwiegen sie. Ein Stück entfernt waren Pier Head und die hohen Türme mit ihren Vögeln zu erahnen. Liverpools Landzeichen.
»Er wohnt bei meiner Schwester«, sagte Elsie. »Meiner Zwillingsschwester. Wir sind eineiige Zwillinge. Genau gleiche Kopien.«
Der Bootsmann zuckte mit den Achseln. Was ging das ihn an.
Aber genau genommen wusste Elsie damals ebenso wenig, ob sie in einigen Tagen nach Hause nach Schweden fahren würde, wie sie jetzt wusste, ob sie über Nacht in Liverpool bleiben würde. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Eigentlich hatte sie bis zum Frühling warten wollen, denn Björn sollte sein Abitur im Mai machen, und dann wollte sie natürlich dabei sein. Vorausgesetzt, dass es wirklich dazu kam. Was wiederum voraussetzte, dass er immer noch aufs Gymnasium ging und endlich etwas für seine Zensuren getan hatte. Sie wusste es nicht. Sie hatten seit Monaten nicht mehr miteinander geredet, und das letzte Mal war es ein verrauschtes Funkgespräch gewesen, bei dem beide nur einzelne Worte hatten verstehen können. Elsie hatte etwas von Nebel, Eis und Winter gerufen, die auf sie warteten, obwohl das Labradormeer glänzend und sommerblau vor dem Bullauge der Funkkabine dalag. Björn hatte erzählt, dass er der Sänger einer neuen Band geworden war, einer Band, die schon jede Menge Konzerte gegeben hatte und bald eine Platte aufnehmen wollte, aber er hatte nichts verstanden, als sie nach Zensuren und Ferienjob fragte. Anschließend hatte Inez den Hörer übernommen und lautstark erklärt, dass es ihr, Birger und Susanne gut gehe, Lydia aber langsam etwas verwirrt werde. Nicht, dass man sich momentan tatsächlich schon Sorgen machen müsse, aber Elsie solle nicht zu lange damit warten, wieder nach Hause zu kommen. Sonst werde Lydia sie nicht wiedererkennen.
Elsie wusste damals nicht so recht, was sie glauben sollte. Lydia war nicht besonders alt, sie war noch nicht einmal in Pension gegangen, und noch vor einem Jahr war sie kristallklar im Kopf gewesen. Aber trotz allem war Inez Elsies Zwillingsschwester und früher außerdem ihre beste Freundin gewesen, der Mensch auf der Welt, von dem sie annahm, dass sie ihn am allerbesten kannte und verstand. Sollte sie sich tatsächlich etwas über die eigene Mutter zusammenlügen, nur um Elsie zu beunruhigen?
Elsie trank den letzten Schluck Kaffee und schmunzelte vor sich hin. Und ob. Das war durchaus möglich. Inez konnte sich wer weiß was ausdenken, nur um Elsie ein wenig zu quälen. Das wusste sie, nachdem sie selbst seit Jahren mit Andeutungen und Halbwahrheiten operiert hatte, um Inez zu ärgern und ihren Neid zu schüren. Wie damals, als sie nach Lydias Geburtstagsfeier zusammen abwuschen. Elsie hatte sich gegen den Spültisch gelehnt, während sie die Gläser abtrocknete und Inez mit gedämpfter Stimme anvertraute, dass schwarze Männer eine Haut hatten, die buchstäblich glatt wie Seide war, und dass alles, was man sonst noch so sagte – sie wollte nicht ins Detail gehen, aber Inez würde schon verstehen –, tatsächlich wahr war. Inez hatte Flecken am Hals bekommen und krampfhaft ins Spülbecken gestarrt.
»Du spinnst ja«, hatte sie gesagt und bewusst vermieden, Elsie anzusehen.
Elsie hatte kurz aufgelacht und ein Glas gegen die Küchenlampe gehalten, es mit halb geschlossenen Augen betrachtet.
»Du kannst mir glauben. Das ist mit das Beste, was ich erlebt habe.«
»Und wie hieß er?«
Elsie suchte eilig in ihrem Gedächtnis nach einem passenden Namen.
»Abe«, sagte sie schließlich.
Abe? Wo hatte sie das her? Der einzige Abe, den sie kannte, das war ein verschrumpelter Schotte, der vor vielen Jahren ein paar Monate lang auf demselben Schiff wie sie angeheuert hatte. Sie hatte ihm seitdem nicht einen Gedanken gewidmet. Dafür hatte es keinen Grund gegeben. Sie hatten kaum etwas miteinander zu tun gehabt, und er hatte definitiv kein passendes Objekt für erotische Fantasien abgegeben. Aber Inez hatte angebissen. Sie biss immer an, wenn Elsie sie lockte.
»Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»In New Orleans.«
»In den Südstaaten? Konntet ihr euch denn in den Südstaaten zusammen
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