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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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auf der Straße zeigen?«
    Elsie stellte lächelnd das letzte Glas in den Schrank, ehe sie das Geschirrtuch zusammenlegte. Inez hatte natürlich getrennte Geschirrtücher für Glas und Porzellan. Plus eines extra, das frisch gemangelt und steif auf dem Küchentisch lag, in Erwartung des Bestecks. Natürlich. Kleines Fräulein Vernünftig hatte sich in die Große Frau Perfekte Hausfrau verwandelt.
    »Draußen haben wir uns nie zusammen gezeigt«, sagte Elsie und griff nach dem Porzellantuch. »Wir hatten ja auf demselben Schiff angeheuert.«
    »Du spinnst ja«, sagte Inez noch einmal.

Als Kinder hatten Elsie und Inez sich gegenseitig in ihre Fantasien eingehüllt, gestützt und bestätigt, und wenn eine von ihnen sich an die Kindheit erinnerte, dann waren es die Fantasien, an die sie sich erinnerten. Die Fantasien und das Licht. Es schien, als hätten sie ihre gesamte frühe Kindheit jede in ihrem Bett liegend verbracht, in dem braun tapezierten Zimmer, das Kinderzimmer genannt wurde, als hätten sie jahrelang unter der roten Steppdecke und zwischen den weißen Laken gelegen, eingehüllt in das schmutzig gelbe Licht einer schweren Messinglampe mit Pergamentschirm, die auf einem alten Schreibtisch zwischen den Betten stand. Die Welt gab es nicht, sie hörten weder die Straßenbahnen, die auf der Straße quietschten, noch das Radio, das im Wohnzimmer flüsterte, weder Mutters murmelnde Stimme noch Vaters Husten.
    »Aus Spaß hat jede von uns einen Vogel«, sagte Elsie. »Und aus Spaß fliegen wir auf ihnen …«
    »Aber keine Gans«, sagte Inez. »Einen Schwan. Aus Spaß hat jede von uns einen Schwan.«
    »Und dann fliegen wir ganz hoch …«
    »Über einen großen Wald, einen ganz schwarzen Wald …«
    »Aber mit ganz weißem Schnee auf dem Boden.«
    »Und Bergen weit in der Ferne. Schwarze Berge mit weißen Spitzen.«
    »Und mit einem Schloss ganz oben auf dem höchsten Berg. Aus Glas.«
    Eine Weile lagen sie still da, Inez auf dem Rücken und Elsie auf dem Bauch, und sahen, wie die Schwäne ihre Kreise über dem Schloss zogen. Ein paar verschwommene Gestalten bewegten sich im Inneren. Man konnte durch das dicke Glas nicht richtig erkennen, wie sie aussahen oder was sie taten, aber ihre gebeugten Rücken und langsamen Bewegungen ließen ahnen, dass sie traurig waren.
    »Die Königin weint«, sagte Inez. »Aber sie will nicht, dass man es sieht.«
    »Aber der König weint nicht«, sagte Elsie.
    »Er hofft.«
    »Ja. Eine Wahrsagerin hat ihm gesagt, dass es Hoffnung gibt.«
    »Wenn ihn nur jemand zu einem Brunnen im Wald bringt, dann wird er wieder gesund werden …«
    »Aber er weiß nicht, wo der ist.«
    »Und man kommt nicht aus dem Schloss heraus, wenn man nicht fliegen kann.«
    »Deshalb glaubt der König nicht, dass es jemanden gibt, der ihm helfen kann. Doch dann kommen wir.«
    Sie ließen den König den einen Schwan nehmen und setzten sich zusammen auf den anderen, ermahnten den König, sich gut festzuhalten, und ließen dann ihre Vögel aufsteigen. Ein paar Minuten später – nachdem der König einen Schluck Wasser aus dem verzauberten Brunnen getrunken und sofort wieder gesund geworden war – ließen sie die Vögel noch höher steigen. Sie flogen durch Wolken, die wie Zuckerwatte schmeckten, sie zupften Kometen am Schweif und berührten fast die Sterne, bevor sie den Schwänen sagten, sie sollten wieder zurück zum Schloss des Königs und zu der wartenden Königin fliegen. Diese war überglücklich, dass Elsie und Inez den König geheilt hatten. Jeden Abend wurde sie wieder genauso froh.
    Wenn Lydia eine Weile später hineinschlich, um die Lampe auszuschalten, lagen Inez und Elsie mit geschlossenen Augen da. Sie sprachen nie darüber, was sie dachten, wenn es dunkel wurde, aber manchmal ließen sie es die andere erahnen:
    »Warum ist Gott so dumm?«, schluchzte Inez eines Tages, als sie hingefallen war und sich wehgetan hatte.
    Elsie antwortete nicht sofort, schaute sich zunächst um, um sicherzugehen, dass niemand gehört hatte, was ihre Schwester da gesagt hatte.
    »Das frage ich mich auch«, sagte sie dann, während sie Inez half, die Kieselsteine aus der Schürfwunde zu wischen. »Das frage ich mich wirklich.«
    Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
    Natürlich erinnerten sie sich auch an all das andere, das, was Wirklichkeit genannt wurde, wenn auch nicht genauso deutlich. Die Welt um sie herum wurde erst richtig greifbar, als sie in die Schule kamen. Vorher hatten sie einander zugewandt in der großen

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