Eis und Wasser, Wasser und Eis
weißer Fassade und samtroten Eingeweiden, das mitten im Königreich einer neuen Generation gestrandet war. Die Sechzigerjahre existierten hier drinnen nicht, hier gab es nichts, was auch nur annähernd an die Beatles oder den Mersey Beat erinnerte. Die Beleuchtung war gelblich dumpf, und dicke Teppiche schluckten alle Geräusche, ein Piccolo mit sehr kurz geschnittenem Haar in roter Uniform salutierte vor ihr am Eingang, und an der Rezeption wartete ein junger Portier in Jackett mit gestreifter Hose und rotem Scheuerrand am Hals vom frisch gestärkten Kragen. Mit einer angedeuteten Verbeugung überreichte er Elsie den Schlüssel. Frühstück wurde zwischen sieben und zehn serviert, aber wenn sie jetzt bereits etwas wünschte, dann …
Doch sie wünschte nichts. Das Einzige was sie wollte: in ihr Zimmer kommen. Der kleine Piccolo griff nach ihrer Reisetasche, bevor sie ihn stoppen konnte – die war doch viel zu schwer! –, und schleppte sie zum Aufzug. Er hielt ihr die Tür auf und machte eine übertriebene Verbeugung, als sie hineinging.
»Excuse me, madam«, sagte er und musterte ihre Uniform. »Are you in the Navy?«
Elsie musste lachen.
»Nein«, antwortete sie. »Ich bin Funkerin. Aber nicht bei der Navy. Auf einem ganz normalen Frachter.«
»Aha«, sagte der Junge. »Wenn ich achtzehn bin, will ich zur Marineoffiziersschule.«
»Dann willst du wohl Kapitän werden?«
»Oder Bootsmann. Mein Vater ist Bootsmann.«
»Das ist eine schwere Arbeit …«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Vielleicht hatte sie ihn mit ihrer Andeutung dahingehend, wie klein und dünn er war, verletzt. Sie versuchte es mit einem Lächeln wiedergutzumachen.
»Wie heißt du?«
»Malcolm.«
»Du wirst bestimmt ein sehr tüchtiger Bootsmann, Malcolm.«
Er hielt ihr wieder die Fahrstuhltür auf, und sie trat auf einen Flur mit geblümter Auslegware hinaus. Die einigermaßen sauber war.
»Ich will die ganze Welt sehen«, sagte er. »Mein Vater war nur auf drei Kontinenten, aber ich will alle fünf sehen. Auf wie vielen Kontinenten waren Sie schon, Madam?«
Sie überlegte, während er die Tür zu ihrem Zimmer aufschloss.
»Vier«, sagte sie dann und trat ein. »Europa, Asien, Australien und Amerika. Plus Nordpol.«
»Der Nordpol! Ich würde alles dafür geben, um an den Nordpol zu kommen. War es dort fantastisch?«
Sie lächelte. Erkannte den Traum wieder.
»Ja. Wirklich fantastisch.«
»Große Eisberge?«
»Nein, dort nicht. Ganz normales, flaches Eis. Aber das kann auch schön sein, besonders im Sommer. Dann gibt es so etwas wie kleine Seen auf dem Eis, kleine aquamarinfarbene Seen …«
»Aqua … was?«
Elsie zog sich die Jacke aus und schaute sich um. Das Hotelzimmer war sehr geblümt. Rote Rosen auf dem Teppich, rosafarbene an der Wand, beige auf der Gardine.
»Himmelblau. So blau wie der Himmel an einem richtig schönen Sommertag. Als ich es das erste Mal sah, war schönes Wetter, und deshalb glaubte ich, der Himmel würde sich spiegeln und dem Eis die Farbe geben, aber schon am nächsten Tag sah ich, dass die Seen genauso blau waren, als es bewölkt war. Sie waren dann sogar noch schöner.«
Der Junge stand in strammer Habachthaltung da, kniff nur ein wenig die Augen zusammen, als versuchte er, weit in die Ferne zu schauen. Elsie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, während sie sich aufs Bett sinken ließ. Die Matratze schien hart zu sein, aber das störte sie momentan nicht, im Augenblick war sie ja mit einem kleinen Piccolo am Nordpol.
»Dann habe ich erfahren, dass es die Zeit ist, die diese Farbe schafft. Denn mit jedem Jahr wird das Eis blauer … In Schweden, dort, wo ich herkomme, da ist das Eis immer weiß, denn es schmilzt im Sommer, aber oben im Nördlichen Eismeer ist es blau. Richtig blau. Es schmilzt nie, nur im Sommer bilden sich diese kleinen Seen. Blaue Seen in weißem Schnee, das sieht aus, als hätte jemand ein riesiges Puzzle in Blau und Weiß gelegt …«
Sie öffnete die Handtasche und suchte nach ihrem Portemonnaie. Zeit fürs Trinkgeld. Aber Malcolm schien das nicht zu bemerken.
»Haben Sie Eisbären gesehen, Madam?«
Sie holte ein paar Pennys heraus und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ja, aber nicht am Nordpol. Dort können nicht einmal Eisbären leben. Die gibt es weiter südlich.«
Sie schüttelte leicht die Hand, sodass die Münzen klirrten. Er zwinkerte und streckte ihr seine gewölbte rechte Hand entgegen.
»Später einmal werde ich dorthin fahren«, sagte er.
Elsie
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