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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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lächelte ihn an.
    »Wie alt bist du, Malcolm?«
    »Fünfzehn.«
    Fünfzehn? Sie hätte ihn auf zwölf geschätzt. Höchstens. Aber das sagte sie natürlich nicht.
    »Dann hast du noch Zeit. Du wirst es schaffen, den Nordpol und alle fünf Kontinente zu sehen.«
    »Ja«, nickte Malcolm ernst und schob sich das Trinkgeld in die Hosentasche. »Ich finde, man sollte es auf jeden Fall versuchen. Wo man sowieso schon mal hier ist.«
    Elsie zog die Augenbrauen hoch.
    »Hier?«
    »Auf der Erde«, sagte Malcolm und verbeugte sich schnell. »Man sollte doch so viel wie möglich sehen, solange man hier auf der Erde ist.«
    Als er gegangen war, schaltete sie die Deckenlampe aus und die kleine Wandlampe an, blieb dann eine ganze Weile einfach nur sitzen, zog sich die Haarnadeln aus dem Haarknoten, rieb sich die Kopfhaut und schüttelte das offene Haar, dass es im Nacken kitzelte, bevor sie sich hinlegte, die Hände hinter dem Kopf, und die Schatten des Stucks an der Decke betrachtete. Es war sehr still, so still, dass sie plötzlich nervös wurde und sich zurück auf ihr Schiff und zu dem beruhigenden Herzschlag der Motoren sehnte. Es war nie leicht, an Land zu gehen, tatsächlich wurde es mit jedem Mal schwieriger, sich an all die Straßen und Häuser zu gewöhnen, all die Farben und Dinge, alles, was plötzlich auftauchte und ebenso plötzlich wieder verschwand, alle Gesichter und Kleider, alle Stimmen und Geräusche und – nicht zuletzt – diese Stille, die manchmal so absolut sein konnte, dass sie Elsie aus ihrem Tiefschlaf weckte und sie einen atemlosen Moment lang glauben ließ, der Albtraum aus ihrer Kindheit wäre Wirklichkeit geworden, sie wäre ganz allein auf der Welt, alle, sogar Inez, hätten vergessen, dass es sie gab, und wären woandershin gegangen.
    Das Leben an Bord war in jeder Hinsicht einfacher. Himmel und Meer wechselten zwar die Farbe, aber der Horizont lag dort, wo er hingehörte, Pflichten gab es nicht viele und sie waren nachvollziehbar, die Hierarchie definiert und nicht in Frage zu stellen. Wenn die Wache beendet war, schloss sie die Tür hinter sich in einer Kajüte, die einfach und sauber wie eine Klosterzelle war. Das war eine Welt, in der Augen und Sinne ausruhen konnten, in der die Atemzüge langsam und die Gedanken von Ruhe erfüllt wurden … Vorausgesetzt natürlich, dass es endlich allen in der Besatzung aufgegangen war, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, dass sie nicht daran dachte, mit einem von ihnen zu schlafen. Mit keinem einzigen.
    Bereits in den ersten Monaten auf See lernte sie, dass es nicht genügte, nur Nein zu sagen, dass dieses Nein ihren Gesichtsausdruck und ihren Tonfall von dem Moment an prägen musste, an dem sie an Bord ging und von da an viele Monate lang. Jedes Lächeln konnte zu einem Klopfen an ihrer Kajütentür spät in der Nacht führen, jedes Lachen dazu, dass jemand versuchte, sie in eine Ecke zu drängen und seine Lippen auf ihre zu pressen, jeder kurze Blickkontakt dazu, dass fremde Hände sich plötzlich um ihre Brust schlossen und ein bärtiges Kinn sich an ihrem Nacken rieb. Sie hatte sich oft freikämpfen müssen, hochrot und mit Tränen in den Augen, während die Angst in der Magengrube flatterte und ihre Stimme voller Panik war. Trotzdem waren es nicht die emsigen Hände und der keuchende Atem, die sie am meisten fürchtete. Es war die Wut danach. Das waren Männer, die so in ihrer eigenen Lust gefangen waren, dass sie diejenige verabscheuten, die sie weckte. Deshalb musste jede Frau, die vermeiden wollte, verabscheut zu werden, Abstand von dem Wunsch nehmen, geliebt zu werden, sie musste ihre eigene Sehnsucht verschließen, ihre eigene Begierde einkapseln und versiegeln, sonst würde ihr bald höh-nisches Geflüster folgen, dieses Geflüster, das stets der Stewardess oder der Funkerin folgte, die einmal die Tür ihrer Kajüte geöffnet hatte. Die Nutte vom Kapitän! Die Hure des Steuermanns! Nilssons Flittchen! Die gleichen Worte, wie sie auch in Landskrona einem Mädchen hinterhergetuschelt wurden, das …
    Nein. Allein der Gedanke an diese Worte ließ es in ihrem ganzen Körper kribbeln, sie wollte nicht daran denken, nicht daran erinnert werden, dass es sie gab. Plötzlich durchzuckte es sie. Björn! Sie sehnte sich nach Björn. Deshalb setzte sie sich mit einem Ruck auf und griff nach dem Telefon, wählte ohne lange nachzudenken die Nummer der Zentrale.
    »Ich möchte gern ein Auslandsgespräch anmelden«, sagte sie. »Nach Landskrona. In

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