Eis und Wasser, Wasser und Eis
Mal sahen. Die Ärzte hielten es nämlich für keine gute Idee, einen Patienten mit postprimärer Tuberkulose nach Hause in eine Wohnung zu schicken – wie groß sie auch immer war –, in der es zwei Säuglinge gab. Zwar gehörten Inez und Elsie zu den Ersten in Schweden, die eine Tuberkuloseimpfung erhielten, dafür hatte Lydia gesorgt, aber trotzdem war es das Beste, auf Nummer sicher zu gehen.
Inez und Elsie waren sich nie sicher gewesen, was eigentlich ihre früheste Erinnerung an Ernst war. Vielleicht gab es gar keine richtige Erinnerung, vielleicht hatten sie sich nur Bilder geschaffen zu dem, was Lydia erzählte. Denn wie sollte sich eine Einjährige an den bellenden Husten ihres Vaters erinnern oder eine Zweijährige an seine glänzenden Augen? Und waren sie tatsächlich ins Badezimmer gekommen, als dort das ganze Waschbecken voll mit Blut war? Das erschien unwahrscheinlich. Nicht nur Lydia, sondern auch alle anderen Erwachsenen waren ja sorgsam darauf bedacht, sie vor Ansteckung zu schützen. Wenn sie zu Besuch ins Sanatorium fuhren, durften sie nicht einmal in die Nähe des Gebäudes selbst gehen, das wussten Inez und Elsie beide noch mit Sicherheit, wenn auch ihre frühesten Erinnerungen daran traumartig und diffus waren. Bei Inez standen an erster Stelle die gelb-weiß karierten Kleider, die Elsie und sie für die Reise bekommen hatten. Ihre gesamte Erinnerung an den ersten Besuch in Orup war von diesen Karos überdeckt. Wie ein Gitter lagen sie über dem Park, über dem weißen Haus und über Ernsts bleichem Gesicht, während er sich über das Balkongeländer beugte und seinen Mädchen zuwinkte.
Die richtige Erinnerung, die wirklich ihre eigene war, handelte nicht von Husten und Blutstürzen, sie handelte von dem anderen, dem Merkwürdigen, das immer, ein paar Monate nachdem Ernst aus dem Sanatorium nach Hause gekommen war, geschah. Schrille Schreie, die mitten in der Nacht durch die Wohnung hallten. Ein Sack voller Geschenke, der auf dem Kinderzimmerboden ausgeleert wurde, obwohl es weder Weihnachten noch Geburtstag war. Lydias zögerliches Lächeln, wenn Ernst auf die Knie fiel und ihr die Füße küsste. Das leichte Zittern in ihrer Stimme, wenn sie die Arme um Inez und Elsie legte, sie an sich drückte und versicherte:
»Papa macht nur Spaß, Mädchen! Er macht nur Spaß.«
Wenn der Husten zurückkam, nahm der Spaß ab. Manchmal dauerte es ein paar Wochen, manchmal ein paar Monate, aber das Muster war immer gleich. Ernst wurde zwischen den Hustenattacken immer stiller, immer grauer, immer magerer, bis er sich eines Tages morgens weigerte, aus dem Bett aufzustehen. Was hatte das noch für einen Sinn? Er war doch sowieso verurteilt, er würde bald sterben, es gab keine Hoffnung … Wenn er zum Krankenwagen hinausgetragen wurde, hob er nicht einmal die Hand zum Abschied, schloss nur die Augen und zog sich in sich selbst zurück. Ein weiteres Jahr im Sanatorium erwartete ihn. Wenn er Glück hatte.
Sein Architekturbüro machte Konkurs, als die Mädchen acht Jahre alt waren, aber das erfuhren sie erst viele Jahre später. Sie wussten nur, dass Lydia an einer Mädchenschule zu arbeiten anfing, dass sie Englisch und Französisch unterrichtete und dass sich das Küchenmädchen Anna-Lisa nachmittags um sie kümmern sollte. Das war ein rundliches, puppenhaftes Mädchen mit roten Wangen und glänzenden blauen Augen – laut Ernst ein richtiges Prachtexemplar von einem schwedischen Landei – aber mundfaul und mürrisch. Wenn Inez und Elsie von der Schule nach Hause kamen, gab sie ihnen am Küchentisch Wecken und Kakao; die beiden Mädchen saßen mit baumelnden Beinen auf ihren Stühlen und stopften sich den Mund mit Essen voll, während sie Anna-Lisa betrachteten. Anna-Lisa war der einzige Mensch auf der Welt, den es in keiner Weise zu interessieren schien, dass Inez und Elsie nicht nur eineiige Zwillinge waren, sondern außerdem noch Lachgrübchen und Locken hatten. Nachdem sie den Mädchen den Kakao eingegossen hatte, sah sie die beiden nicht einmal mehr an, legte nur ein Holzscheit im Herd nach, streckte sich, rieb sich den Rücken, und wenn die Mädchen einen Knicks machten und sich fürs Essen bedankten, antwortete sie mit einem misstrauischen Blick, als glaubte sie, dass sie sie ärgern wollten, bevor sie auf die Tür zeigte und sagte:
»Ja, ja. Und jetzt Hausaufgaben!«
Ein paar Stunden später kam Lydia von ihrer eigenen Schule nach Hause und ließ sich in einen Stuhl im Flur fallen. Sie blieb
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