Eis und Wasser, Wasser und Eis
eine Weile reglos dort sitzen und starrte mit leerem Blick vor sich hin, dann beugte sie sich vor, um die Schnürsenkel zu öffnen, umfasste ihre Beine und massierte sie, diese Beine, die immer in dicken braunen Strümpfen steckten, bevor sie aufsah, ihre Töchter entdeckte und ihre Gesichtszüge wieder ordnete. Man musste fröhlich sein. Man durfte sich nicht in Kummer und Sorgen vergraben, wie müde und traurig man auch war.
»Guten Tag, meine Mädchen«, sagte sie. »Habt ihr etwas zu essen gekriegt?«
Inez und Elsie nickten, während sie in ihren Schottenkaro-Alltagskleidern mit weißen Kragen vor ihrer Mutter standen, sauber, gesund und ordentlich, wenn auch mit ein wenig zu vielen Stopfstellen an den Strümpfen und mit ein paar lockigen Strähnen, die sich aus den Zöpfen gelöst hatten.
»Bald sind Osterferien«, sagte Lydia. »Dann fahren wir nach Orup.«
In allen Ferien fuhren sie ins Sanatorium, selbst in den Putzferien, und jedes Mal mussten sie schon um halb sechs Uhr morgens aufstehen, jede in der Küche ein Glas Milch hinunterstürzen und ein Brot in sich hineinstopfen, während Lydia in der Wohnung herumlief und alles Mögliche zusammensuchte, ein neu erschienenes Buch, das Papa vielleicht haben wollte, oder einen alten Pullover, den er bestimmt vermisste. Noch bevor die Mädchen auf dem Flur erschienen, hatte sie sich den Hut aufgesetzt und den Mantel zugeknöpft, stand dann mit der Hand auf der Türklinke da und ermahnte sie. Sie mussten sich beeilen! Sie durften nicht zu spät zum Zug kommen. Papa wartete auf sie, und wenn sie nicht genau zum verabredeten Zeitpunkt ankamen, würde er sich Sorgen machen, und das war nicht gut für ihn, überhaupt nicht gut …
Einzig und allein während der Fahrt nach Orup vergaß Lydia, ihre Nervosität zu verbergen, dafür vergaß sie es dann aber auch vollständig. Bereits wenn der Zug Göteborg verließ, fing sie an, sich wegen des Umsteigens in Lund Sorgen zu machen, ihre Hände flatterten, ihre Stimme wurde schrill. Sie hatten nur sieben Minuten dafür, und wenn sie es nun nicht schaffen würden, von einem Bahnsteig zum anderen zu kommen! Ja, das war gut möglich, denn der Bahnhof von Lund war größer, als man dachte, und hatte viele Bahnsteige, deshalb mussten die Mädchen ihr versprechen, zu gehorchen und brav zu sein, zu laufen, wenn Lydia ihnen sagte, sie müssten laufen, aber auch gut aufzupassen, damit sie nicht auf die Gleise fielen. Denn nichts war gefährlicher, als wenn man auf die Gleise fiel, das wussten sie doch, oder? Deshalb mussten sie versprechen, auf Mama zu hören, sich wirklich zu beeilen und dabei die ganze Zeit auf Mama zu hören …
Vielleicht war es diese Nervosität, die die ersten kleinen Risse in das Band schnitt, das Inez und Elsie zusammenhielt, diese Unruhe, die nie erwähnt werden durfte, die es aber dennoch immer gab, die Unruhe wuchs von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und war schließlich so schwer, dass die eine Schwester nicht mit ansehen mochte, wie viel die andere trug, weil sie sich dann selbst eingestehen müsste, dass sie selbst unter der gleichen Last schwankte.
Das wurde nie so deutlich wie in dem Moment, wenn sie im Park von Orup allein gelassen wurden, wenn Lydia ihnen nach einigen zerstreuten Ermahnungen den Rücken zugewandt hatte und auf das große Gebäude zuging. Sobald sie ihren Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, lösten Inez und Elsie ihre Hände voneinander und drehten sich halb voneinander weg, fingen an, ziellos über Grasflächen und Kieswege zu schlendern.
»Der Warteraum des Todes«, murmelte Elsie und zupfte an ihrem Mantelärmel. Es war bereits Oktober, und vor einigen Wochen hatte Lydia die Mäntel vom letzten Jahr vom Dachboden heruntergeholt und erklärt, dass sie noch einen weiteren Winter lang halten mussten.
»Was hast du gesagt?«, fragte Inez mit steifem Rücken. Sie betrachtete ihre Schwester mit kritischem Blick. Elsies Mantel hatte einen schiefen Saum. Sie hatten ihre Mäntel selbst auslassen müssen, da sie inzwischen dreizehn und also groß genug waren, aber Elsie hatte weder richtig abgemessen noch geheftet, bevor sie nähte. Zu nachlässig. Wie üblich.
»Was hast du gesagt?«, wiederholte Inez.
»Das geht dich gar nichts an …«
»Du hast gesagt, der Warteraum des Todes.«
»So heißt ein Buch.«
»Gar nicht.«
»Wohl. Das steht im Schwedischbuch.«
Inez erwiderte nichts, zog ihren Schuh durch den Kies und legte so einen Streifen brauner,
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