Eis und Wasser, Wasser und Eis
eigentlich gar nicht so viele waren, es wohnten nur drei Familien im Haus. Plus zwei Krankenschwestern, die jeweils ein Zimmer mit Kochgelegenheit oben in der Mansarde bewohnten. Lydia hatte die Mädchen bereits am ersten Abend zu einer kurzen Vorstellungsrunde gezwungen, sie hatten an einer Tür nach der anderen geklingelt, Hände geschüttelt und geknickst, während Lydia hinter ihnen stand, den Kopf schräg und mit zuvorkommendem Gesichtsausdruck. Sie sah weniger zuvorkommend aus, als sie in ihre eigene Wohnung zurückgekommen waren und sie hören musste, wie die Mädchen sich über den Dialekt der Nachbarn lustig machten. Diese Faxen konnten sie sich gleich mal abgewöhnen! Sofort!
Erst nach drei Wochen bekamen sie einen Telefonanschluss, aber als er endlich installiert war, rief Lydia sofort Ernst in Orup an. Er wollte anschließend gern mit den Mädchen sprechen, sie drückten die Köpfe aneinander und hörten, wie er eine kleine Lobeshymne auf Landskrona hielt. Dort würde es ihnen ganz bestimmt gefallen! Landskrona war Göteborg ja so ähnlich, genau genommen war es ein Göteborg in Miniaturausgabe mit seiner Werft, seinem Westküstenlicht und dem Meer, das nicht weit entfernt lag.
Inez und Elsie konnten diese Ähnlichkeit nicht so recht erkennen. Man nehme nur mal die Männer. In Göteborg gab es Männer, die waren Damenfriseure und Schneider, Professoren und Erfinder, Künstler und Schauspieler … alle Arten. Während es in Landskrona so schien, als gäbe es nur Männer, die auf der Werft arbeiteten. Wenn morgens die Sirene ertönte, füllten sich die Straßen mit radelnden Werftarbeitern, hunderten oder tausenden, alle im Blaumann, die Brotdose auf dem Gepäckträger, Männer, die auf dem Werftgelände verschwanden und die Stadt den Frauen überließen, und wenn die Sirene nachmittags erneut ertönte, strömten sie wie ein riesiger Fischschwarm wieder heraus. So war es in Göteborg niemals gewesen, dort war die Werft zwar groß, viel größer als in Landskrona, aber sie schluckte nicht die gesamte männliche Bevölkerung. Hier jedoch schien die ganze Stadt aus Gefangenen der Werft zu bestehen. Außerdem gab es in Göteborg keine Schrebergärten mitten in der Stadt. Die gab es aber in Landskrona, kleine Puppenhäuschen mit Blumenrabatten und Gemüsebeeten, nur wenige hundert Meter vom Markt entfernt, der wohl als das Zentrum der Stadt anzusehen war. Äußerst merkwürdig. Und das Meer? Konnte man den Öresund wirklich mit einem richtigen Meer vergleichen, wie beispielsweise die Nordsee vor Göteborg? Nein, ganz und gar nicht. Dänemark lag viel zu nah. Außerdem war es zu seicht, zu sandig und roch viel zu sehr nach verrottetem Tang. In Göteborg dagegen …
Alles um sie herum hatte sich verändert, und noch waren sie zu jung, um zu begreifen, dass es so bleiben würde, dass alles immer anders sein würde, ganz gleich, was auch geschah. Stattdessen träumten sie davon, eines Tages wieder umzuziehen, so wie andere von Lottogewinnen und der plötzlich auftauchenden großen Liebe träumen. Schon am nächsten Tag konnte alles wieder wie früher sein. Papa wäre wieder gesund, und dann würden sie sofort zurück nach Göteborg in die große Wohnung ziehen. Und wie würden die Klassenkameraden lachen, wenn sie ihnen von ihrem Ausflug in einen Ort erzählten, in dem die Einwohner an ihren eigenen Vokalen fast erstickten.
»Nein«, sagte Lydia eines Tages. »Jetzt reicht es. Jetzt halte ich euer Gequengel nicht mehr aus! Raus mit euch!«
Inez brach ihren Einwand mitten im Satz ab. Elsie fiel die Kinnlade herunter. Lydia, die sonst niemals … Aber jetzt stand sie von ihrem Schreibtisch auf, an dem sie tagein, tagaus gesessen und das kommende Schulhalbjahr vorbereitet hatte, stand vor ihnen, die Hände in die Hüften gestemmt wie eine richtige Waschfrau, und schrie:
»Hört ihr schlecht? Raus! Verschwindet!«
Damit wurde es zur Gewohnheit, dass sie fortgingen, wenn Lydia sich an ihren Schreibtisch setzte, und nach einer Woche war es zur täglichen Befreiung geworden. Sobald sie mit der vormittäglichen Hausarbeit fertig waren, murmelten Inez und Elsie ein kurzes Adieu und verschwanden. Sie gingen Seite an Seite, bis sie vom Schlafzimmerfenster nicht mehr zu sehen waren. Dann nickten sie sich kurz zu und trennten sich. Das hatten sie nicht vereinbart, darüber musste gar kein Wort verloren werden. Das war einfach selbstverständlich. Sie brauchten die Zeit, sich voneinander zu erholen.
Inez strebte sofort
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