Eis und Wasser, Wasser und Eis
einmal Birger konnte ja wohl die Liebe und den Tod besiegen?
Liebe und Tod, beide hatten ein breites Lächeln, aber die Liebe hatte außerdem noch unreine Haut und einen offenen Mantel. Inez sah ihn eigentlich nur ein einziges Mal, und dabei nur ganz kurz, bevor das Lächeln verlosch und er in den Schatten verschwand.
»Elsie?«, fragte sie zögerlich einen anderen Schatten. »Bist du das?«
Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, dann glitt Elsie in den kleinen Lichtkegel an der Pforte. Sie hatte keine Mütze auf, ihr Haar war zerzaust.
»Ja, ich bin’s.«
Über anderthalb Jahre waren vergangen, seit sie nach Landskrona gezogen waren, und in dieser Zeit war das Schweigen zwischen ihnen hart wie Stein geworden. Sie fauchten einander nicht mehr an, waren im Gegenteil meist ausgesucht höflich zueinander, sie sprachen leise über die Schule und die Hausaufgaben, über Lydia und Ernst, über Klassenkameraden und Lehrer, aber ohne der anderen wirklich Zugang zum eigenen Leben zu gestatten. Beide hatten ihre Geheimnisse, auch wenn Inez sich immer wieder vorstellte, dass Elsies Geheimnisse viel geheimer waren als ihre eigenen. Elsie war es auch, die am heftigsten protestierte, wenn Lydia wollte, dass sie gleiche Kleider trugen. Wie an diesem Abend, als Lydia ihnen vorgeschlagen hatte, zum Schulball doch ihre blauen Wollkleider zu tragen. Elsie hatte sich sofort widersetzt. Nie im Leben! Wenn Inez das blaue Kleid anzog, dann würde Elsie das karierte nehmen. Oder umgekehrt. Das war ihr gleich, wenn sie nur nicht in der gleichen Kleidung wie ihre Schwester herumlaufen musste. Sie hatte es so satt. Sie war eine eigenständige Person.
Und jetzt stand Inez in einem karierten Kleid unter dem Mantel da und schaute Elsie an, die ein blaues Kleid unter ihrem trug. Sie hatten sich getrennt, sobald sie an der Schule angekommen waren, und dann war Elsie verschwunden. Inez hatte sich zwischen den Tänzen umgeschaut, aber ihre Schwester unter all den anderen Gymnasiasten in der Sporthalle nicht entdecken können.
»Willst du nicht reingehen?«, fragte sie jetzt.
»Noch nicht.«
»Aber …«
»Ich komme gleich«, sagte Elsie. »Sag, dass ich meine Schuhe vergessen habe und noch mal zurückgehen musste. Oder sonst was.«
Inez warf einen Blick auf den Schatten hinter der Schwester.
»Ich weiß nicht …«
Elsie zuckte mit den Schultern:
»Dann halt nicht.«
Der Schatten hinter ihr bewegte sich kaum wahrnehmbar, eine Hand, die in eine Tasche gesteckt, ein Gewicht, das verlagert wurde, doch das genügte, dass Elsie sich zurückzog und selbst in einen Schatten verwandelte. Inez wandte sich ab, drückte die Tür mit der Schulter auf und huschte ins Treppenhaus.
Langsam und widerstrebend ging sie die Treppen hinauf, als müsste sie sich dazu zwingen, während sie zuerst die Handschuhe auszog und dann das Halstuch löste. Auf halbem Weg blieb sie stehen und schaute auf die Uhr. Fünf vor elf. Elsie hatte also eine Spanne von fünf Minuten draußen vor der Pforte, fünf Minuten, die sie vor Strafe und Verdammnis schützten, vorausgesetzt, es war tatsächlich Strafe und Verdammnis, was hinter der Wohnungstür auf sie wartete. Es konnten ebenso gut Festlaune und Lobeshymnen sein, ganz gleich, zu welcher Tageszeit sie nun aufzutauchen sich bequemte. Das war unvorhersehbar. Alles um sie her war mittlerweile unvorhersehbar. Dann fiel es ihr ein, und sie schmunzelte vor sich hin: Ernst war ja nicht zu Hause. Er war am Nachmittag nach Göteborg gefahren, um einigen alten Kollegen ein Projekt vorzustellen, und würde erst am nächsten Tag zurückkommen.
Ernst war schließlich doch noch gesund geworden, und dennoch war er gar nicht gesund. Denn vor sechs Monaten war er in Landskrona mit offenen Armen und einem Ärzteattest aufgetaucht, das besagte, dass er tatsächlich gerettet war. Vollständig frei von Tuberkelbakterien, dank einer neuen, revolutionären Kombinationsbehandlung. Es lebe die Chemotherapie! Es lebe die moderne Wissenschaft! Das Leben konnte von Neuem beginnen.
Während der ersten Wochen waren die Mädchen ihm gegenüber etwas schüchtern gewesen. Schließlich hatte er seit vielen Jahren nicht mehr mit ihnen zusammengelebt und nie die neue Wohnung besucht, aber er war unkompliziert im Umgang, offen und freundlich und hatte stets gute Laune. Seine Begeisterung war ansteckend, sein Eifer ebenso, und mit jedem Tag, der verging, schien er noch lebhafter zu werden. Es war, als hätte er im Laufe der Jahre eine ganze
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