Eis und Wasser, Wasser und Eis
Als es ihm endlich gelang, Inez in die Konditorei einzuladen, was erst Anfang des Sommersemesters im dritten Schuljahr klappte, erklärte er ihr fast dreißig Minuten lang, welche Umstände zur Französischen Revolution geführt hatten, aber das machte nichts, denn zu diesem Zeitpunkt war die Katastrophe bereits eingetroffen, und alle anderen Verehrer waren abgesprungen. Birger hatte den längsten Atem, wie immer. Er ließ nie von einer Sache ab. Er siegte und brachte fünf Jahre später aus Lund einen Phil. mag. und Inez als seine Ehefrau mit nach Hause.
Während der ersten Jahre nach der Hochzeit kam es vor, dass Inez ihre Handarbeit sinken ließ, wenn sie neben Birger auf dem grauen Sofa im Wohnzimmer saß, und ihn mit einer gewissen Verwunderung betrachtete. Wie war es möglich, dass er immer siegte, dass er sie hatte besiegen können, genau wie er früher die Kinderlähmung und den Schuster besiegt hatte, die Schule und die Universität und wie er inzwischen die ganze Zeit den Schulleiter und das Kollegium besiegte? Er wurde nie laut und äußerte selten seine Meinung, im Gegenteil, er hörte zu und legte den Kopf schräg, lächelte und nickte und warf dann einen Satz ein, eine Frage oder eine Feststellung, die sie verstummen und an der eigenen Meinung zweifeln ließ. Hinterher konnte sie sich nur selten daran erinnern, was genau er gesagt hatte. Sie merkte nur, dass sie Tag für Tag, Jahr für Jahr Dinge tat, die sie eigentlich nicht tun wollte und die sie nie hatte tun wollen. Wie kam es beispielsweise, dass sie auf der Hauswirtschaftsschule gelandet war? Sie hatte sich doch nie fürs Einkochen und Entsaften interessiert, sie hatte geplant, an der Universität von Lund zu studieren. Aber war es wirklich gerecht, Birger die Schuld daran zu geben? Er hatte doch genickt und ihr zugestimmt, als sie davon gesprochen hatte, welche Freude die Literaturgeschichte ihr bereiten würde – Stell dir vor, den ganzen Tag Romane lesen! –, ihr die Hand gedrückt und ihr sogar die Knöchel geküsst, bevor er den Kopf schräg gelegt und dann mit gedämpfter Stimme zwei Worte gesagt hatte:
»Und Björn?«
Das war ein Gedanke, den zu denken sie sich in ihrer Lage nicht erlaubt hatte, eine Erinnerung an die drängende Entscheidung, die ihr bevorstand, die sie versucht hatte, vor sich zu verbergen und aufzuschieben. Was jetzt nicht mehr möglich war. Sie starrte Birger an und blinzelte die Tränen fort, sah das Unausweichliche in dem, was er gesagt hatte, und fügte sich. Lund lag nur vierzig Kilometer entfernt, dennoch war es eine andere Welt, eine Welt, in der es Anfang der Fünfziger absolut undenkbar war, dass eine Studentin einen kleinen Jungen bei sich hatte, auch wenn sie beweisen konnte, dass dieser Junge nicht ihrem eigenen Lotterleben entsprungen war, sondern dem ihrer Schwester. Björn bei Elsie und Lydia zu lassen war genauso undenkbar. Vielleicht würden sie ihn ins Kinderheim stecken. Vielleicht würden sie ihn zur Adoption freigeben. Nicht, dass eine von ihnen so etwas offen gesagt hatte, dennoch wusste Inez, dass sie so dachten, dass Lydia so gedacht hatte, als sie Elsie fortschickte, um in aller Heimlichkeit zu gebären, und dass auch Elsie selbst so gedacht hatte, als sie zurückkam, ohne jede Tatkraft und Lebenslust. Beide hatten eine Art, mit Björn umzugehen, ohne ihn anzusehen, die entlarvend war, leise zu seufzen, wenn er schrie und Inez mit gerunzelter Stirn zu beobachten, wenn sie ihn fest an sich drückte und ihm mit dem Mund über den flaumigen Schädel fuhr. Sie wollten ihn ihr wegnehmen. Und das würde sie nicht überleben.
»Es gibt eine Hauswirtschaftsschule in Landskrona«, sagte Birger im gleichen gedämpften Tonfall. »Mit einem Extrazweig für die, die Hauswirtschaftslehrerinnen werden wollen.«
»Ja«, sagte Inez und blinzelte erneut. »Da hast du recht.«
Diese Antwort prägte ihr Leben. Aber das begriff sie damals noch nicht. Erst viele Jahre später kam ihr in den Sinn, dass es andere Antworten gegeben hätte, bessere Antworten. Denn es gab ja auch in Landskrona ein richtiges Lehrerinnenseminar. Und eine Schule für Krankenschwestern. Aber damals wäre es ihr nie eingefallen, es schien, als gäbe es nur einen einzigen Weg zu gehen, und das war der Weg, den Birger ihr gewiesen hatte. Er hatte den Beschluss für sie gefasst, aber das begriff sie nicht. Sie glaubte, dass andere Kräfte am Werk waren, mächtige Kräfte, die kein Mensch auf der ganzen Welt bekämpfen könnte.
Denn nicht
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