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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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Wolken.
    »Wir werden heute wohl kaum mehr als drei, vier Knoten erreichen«, sagt Roland. »Dann müssen wir sehen, ob es ein Stück weiter besser wird.«
    Keiner sagt etwas darauf.
    »Ja, das war wohl alles.«
    Der Collegeblock wird zugeklappt. Stühle schurren gedämpft über den Boden. Jemand hilft dem an der Hand verbundenen Robert, den Stuhl unter den Tisch zu schieben, und bekommt ein freundliches Nicken als Dank. Die Morgensitzung ist beendet.
    Hinterher stellt sich Susanne an den Bug und lässt sich von dem brechenden Eis hypnotisieren. Die Sonne funkelt in den kleinen Schmelzwasserpfützen draußen auf dem Eis. Der Horizont ist ein weiter Kreis um sie herum, ein Kreis ohne Anfang oder Ende, und alles, was sie sieht, ist dieses Weiß und Blau, ein blau-weißer Himmel über weiß-blauem Eis. Sie kann nicht anders, sie muss lächeln. Jetzt ist sie endlich am Ziel ihrer Träume angekommen. Außerhalb der Welt. In dem sicheren Vakuum, in der vollkommenen Ereignislosigkeit, die sie ihr ganzes Leben lang gesucht und gescheut hat. In diesem Moment würde es ihr nicht das Geringste ausmachen, wenn sie nie wieder ein Haus, eine Zeitung oder eine Straßenlaterne sehen würde, wenn sie nie wieder auf ein Fest gehen, neue Strümpfe kaufen oder mit einem anderen Menschen reden könnte. Sie ist bereit, der gesamten Zivilisation abzuschwören nur für den Genuss, allein ganz vorn am Bug eines Eisbrechers zu stehen und zu sehen, wie er sich durch das Eis drängt.
    Sie hängt über der Reling und starrt nach unten, sieht, wie das Wasser von der Oden über das Eis gespült wird und wie der gewölbte Bug anschließend auf die feuchte Oberfläche gleitet und sie hinunterdrückt. Ein Riss läuft schnell ein paar Meter nach vorn, ohne jedoch das Eis zu brechen, er öffnet nur eine kleine Wunde an der Oberfläche, eine feuchte kleine Wunde, die türkisfarbene Eingeweide freilegt. Die Oden fährt einige Meter zurück und nimmt noch einmal Anlauf, wirft sich erneut mit ihren neuntausend Tonnen drauf, und jetzt geschieht es endlich. Das Eis bricht in einem gewaltigen Schock, wird zu riesenhaften Eisschollen verwandelt, die sich widerstrebend zur Seite wälzen. Einen Moment lang entblößen sie ihre glasblauen Körper, bevor sie in das schwarze Wasser unter dem Schiff gesogen werden, um Sekunden später an Backbord oder Steuerbord wieder an die Oberfläche zu steigen, nackt und riesig, wütend und rachsüchtig, aber dabei vollkommen machtlos. Die Oden schiebt sich vor, bricht auf und zerbricht das, was jahrzehntelang geschlossen und verborgen war. Kleine Wasserfälle rinnen in den ersten Sekunden die Ränder der Eisschollen hinunter. Dann ist es plötzlich vorbei. Das gebrochene Eis wendet sein verletztes Innere gen Himmel und bleibt so liegen. Hinter dem Schiff schließt es sich zu einem Wall zusammen: ein Wall, der in nur wenigen Stunden so hart gefroren sein wird, dass es unmöglich ist hindurchzukommen.
    Susanne wendet ihr Gesicht der Sonne entgegen und schließt die Augen, genießt ebenso intensiv das Brummen der Maschinen und der Eismühle der Oden, wie sie zuvor die Stille in ihrer Kajüte genossen hat. Hierhin war sie also auf dem Weg. Das war es, wonach sie sich gesehnt hat. Nach dem angenehmen Gefühl, Eis zu brechen, die Stille in der Arktis zu zerschlagen, hinter sich eine Wunde in einer Landschaft zu hinterlassen, die jahrelang ungestört und unberührt dagelegen hat. Bei diesem Gedanken muss sie schmunzeln. Vielleicht nicht so ganz. Aber etwas in der Richtung.
    Als sie wieder die Augen öffnet, bleibt ihr Blick an einem kleinen gelben Punkt draußen auf dem Eis hängen. Es dauert ein Weilchen, bis sie begreift, dass es ein Eisbär ist. Ihr erster Eisbär. Sie hebt das Fernglas und stellt es ein. Der Bär steht ein Stück entfernt mit offenem Maul da, steif und reglos, als wäre er ausgestopft, und starrt die Oden an, bis er sich ganz, ganz langsam auf die Hinterbeine erhebt.
    Er starrt Susanne an, und Susanne starrt zurück.
    Eine Minute später ist das Deck wieder einmal voll mit Leuten, Kameras klicken, alle drängen sich an der Reling, reden und lachen. Der Bär ist näher gekommen, mit einwärts gedrehten Tatzen ist er direkt auf den Bug zugetrottet, aber jetzt ist er stehen geblieben und hat sich wieder auf die Hinterbeine gestellt, steht mit kerzengeradem Rücken dort und starrt sie an.
    »Das muss ein Männchen sein!«
    »Ich glaube, noch ziemlich jung.«
    »Die jungen Männchen sind die schlimmsten. Richtig

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