Eis und Wasser, Wasser und Eis
lebensgefährlich. Auf Spitzbergen …«
»Ja. Das muss ein Männchen sein, jung, dumm und übertrieben mutig.«
»Obwohl es auch Weibchen gibt, die einen ausgebildeten Penis haben.«
»Wieso das?«
»Durch die Chemikalien, glaube ich. Alles wird ja hier hochgespült.«
»Droht er uns? Steht er deshalb auf den Hinterbeinen?«
»Nein. Er guckt nur. Wenn er uns drohen will, dann dreht er uns die Seite zu.«
»Und krümmt den Rücken.«
»Aber das wird er nicht tun. Er begreift nicht, dass die Oden größer ist …«
»Woher weißt du das?«
»So ist das eben. Sie haben ja nichts, wovor sie Angst haben müssen, überhaupt keine natürlichen Feinde.«
»Scheiße, wir werden ihn überfahren …«
»Nein, er wird sich schon trollen, wenn er genug geguckt hat.«
In dem Moment verliert der Bär das Interesse an der Oden, stellt sich auf alle viere und trampelt ein paarmal auf der Stelle, bevor er ihnen den Rücken zukehrt und davontrottet.
»Er war schön«, sagt John zu Susanne. Sie lächelt zur Antwort:
»Ja«, sagt sie. »Sehr schön.«
Eine Weile bleibt es still, sie schauen beide übers Eis. Der Bär ist plötzlich weg. Niemand weiß, wohin er gegangen ist.
»Wie läuft es mit dem Kartieren?«, fragt Susanne.
»Nicht so gut«, sagt John. »Das Eis zerrt an den Ketten, es ist schwer, den Fisch an Ort und Stelle zu halten.«
»Den Fisch?«
»Das Messinstrument.«
»Ach so«, sagt Susanne.
Dennoch hält er sein Versprechen und nimmt Susanne auf einen pädagogischen Rundgang mit. Sie bleiben eine Weile achtern stehen und schauen auf das zerbrochene Eis hinunter, sehen, wie es an den Ketten zieht und zerrt, die den Fisch weit dort unten an Ort und Stelle halten sollen. John sieht besorgt aus, als er sich mit festem Griff um die Kette weit vorbeugt und hinunterschaut:
»Das Risiko besteht, dass es ganz zerstört wird«, sagt er.
Susanne nickt, hört aber eigentlich gar nicht zu. Sie starrt auf den Eiswall, den sie hinter sich lassen, und auf das niedrige, offene Achterdeck. Hier gibt es keine Reling. Und das Schiff liegt so tief, dass sie problemlos hinunterklettern könnte, sie würde ihren Fuß auf einen der enormen Blöcke setzen können und sich an ihm festhalten, während sie vorsichtig auf das unzerstörte Eis daneben kletterte. Und dann könnte sie dort stehen bleiben, würde vollkommen reglos dort stehen bleiben und nur zusehen, wie das Schiff am Horizont verschwände …
Und dann? Tja. Das Schiff fährt wahrscheinlich nicht schneller, als sie laufen könnte. Natürlich vorausgesetzt, dass sie nicht auf einen Eisbären träfe. Sie lächelt in sich hinein und wendet sich John zu. Er redet, aber sie hat nicht gehört, was er gesagt hat.
»… jedenfalls auf den Computern.«
Er geht los. Aha. Dann wollen sie wohl zu seinem Container gehen und sich die Computer ansehen. Sie schiebt die Hände in die Taschen und folgt ihm.
Die Bilder sind nicht fertig. Vorläufig erscheinen nur Ziffern und Striche auf dem Bildschirm, Ziffern und Striche, die Susanne vollkommen unbegreiflich sind. Einer von Johns Doktoranden versucht zu erklären, aber seine Sprache ist unverständlich. Chirp? Sonar? Fächerecholot? Sie nickt trotzdem und lächelt vorsichtig, tut, als wäre sie vollkommen der gleichen Meinung, bis John eingreift. Er hat einen anderen Computer eingeschaltet:
»Komm her, Susanne«, sagt er. »Hier kannst du sehen, wie sie später aussehen werden …«
Das Bild sieht aus wie aus einem Computerspiel. Grellgelbe Berge. Giftgrüner Boden. Knallrote Hügel.
»Was ist das?«
»Eine Bucht in Stockholms Schärengürtel«, sagt John. Er lässt das Bild nicht aus den Augen. Susanne steht dicht hinter ihm, so dicht, dass sie seine Körperwärme spüren kann. Sie legt den Kopf schräg und versucht nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie ist. Die Bilder offenbaren zwar eine verborgene Wirklichkeit, aber nicht so, wie sie sich das vorgestellt hat. Das sind keine Fotografien, sondern digitalisierte Zeichnungen. Keine Pflanzen, keine Unterwasserwesen, kein versunkenes Atlantis.
»Die Farben geben die Tiefe an«, sagt John. »Rot ist flach, Grün tief. Und Blau ist richtig tief.«
Sie nickt stumm hinter seinem Rücken, beugt sich dann vor und gibt sich interessiert.
Der Besuch im Labor wird zum Auslöser, aber es dauert eine Weile, bis sie das merkt. Erst als sie wieder in ihre Kabine gegangen ist, merkt sie, dass sich Figuren in ihrem Kopf bewegen. Sie kann sie sehen. Sie kann hören, wie sie miteinander
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