Eis und Wasser, Wasser und Eis
holte tief Luft, verscheuchte alle Gedanken bis auf einen. Ein Spaziergang. Das war es, was sie brauchte.
Die Luft draußen war so kühl, dass sie ihr den Atem nahm, so kühl, dass sie sonderbarerweise sauber erschien, trotz der Autos, die sich auf den Fahrbahnen drängelten. Sie hörte sie, sah sie aber nicht direkt, denn gerade als sie auf den Bürgersteig trat und den Baldachin des Hotels hinter sich ließ, brach die Sonne in einem Wolkenspalt hervor und zwang sie zu blinzeln. Sie hielt sich eine Hand über die Augen, wandte sich dann nach rechts und ging los. Trafalgar Square. Dorthin wollte sie jedenfalls. Und zurück.
Die Sonne war nur kurz aufgeblitzt, jetzt war sie bereits verschwunden, und der Himmel hing tief über den Straßen. Es wehte so kalt, dass ihre Knie bereits nach wenigen hundert Metern eisig wurden. Das machte nichts. Im Gegenteil. Wer friert, denkt nicht. Wenn sie nur genügend fror, konnte sie sich vielleicht einbilden, alle Zeit der Welt zu haben, nicht nur eine Stunde oder zwei, bis zu dem Moment, in dem sie ihren Sohn wiedersehen sollte … Eine Fantasie flatterte schnell vorbei. Sie sah sich selbst von dem dunkelroten Sofa aufstehen und ihn aus der Entfernung betrachten, sah sich erröten und mit zitternder Hand den Rock glatt streichen, schob dann jedoch den Gedanken entschlossen beiseite und betrachtete ihre Umgebung.
Es war ein ganz gewöhnlicher Freitagvormittag in London, ein Tag Anfang Dezember, der allen anderen Tagen glich, an denen sie hier herumgelaufen war, kurz nachdem sie abgemustert hatte oder kurz bevor sie angeheuert hatte, und dennoch war alles anders. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, woran es lag. Die Mode. Als sie das letzte Mal in London gewesen war – wann war das? –, hatten die jungen Mädchen immer noch toupiertes Haar, hohe Absätze und glockige, steife Röcke getragen. Jetzt gab es nicht ein einziges solches Mädchen mehr in der Stadt. Alle trugen lange glatte Haare, flache Absätze und kurze Mäntel. Sehr kurze Mäntel. Manche reichten nur knapp über den unteren Rand des Slips.
Elsie warf einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild in einem Schaufenster. Sah sie altmodisch aus in ihrem alten Mantel? Sie konnte es nicht sagen. Vermutlich. Andererseits war sie ja auch nicht mehr so jung, und es gab kein Gesetz, nach dem Frauen, die auf die Vierzig zugingen, der Mode folgen mussten. Sie konnten sich ruhig darauf vorbereiten, alte Schachteln zu werden, und das erst recht, wenn sie keine Lust hatten, sich dem Spott auszusetzen, der immer den Frauen nachhing – die Gedanken machten einen großen Bogen um das Wort ältere, denn so alt war sie ja nun auch nicht –, die versuchten, sich jünger zu machen, als sie waren. Obwohl es eigentlich gleich war. Man konnte auch dafür verspottet werden, eine alte Schachtel zu sein. Man konnte für alles Mögliche verspottet werden. Solange man kein Mann war, verstand sich. Dann streifte man sich einfach das Kostüm über, das von der Gesellschaft und dem Klassenstatus vorgegeben war. Anzug und Melone, wenn man zum Wirtschaftsprüfer oder höheren Beamten geboren war. Jacke und Pullover, wenn man Matrose oder gewöhnlicher Arbeiter war. Ein alter Seemannsscherz kam ihr in den Sinn: Wie nennt man einen Liverpooler im Anzug? Den Angeklagten.
Elsie schaute zu Boden, um ihr Lächeln zu verbergen, aber das war nicht so einfach. Es lag immer noch auf der Lauer, als sie den Blick wieder hob und ein Teenagermädchen erblickte, das direkt auf sie zukam, ein Mädchen mit großen, schwarz geschminkten Augen, das eine weiße Spitzenstrumpfhose mit einer breiten Laufmasche trug, einen knallrosa Mantel, nur wenige Zentimeter länger als eine Jacke, mit dem Rand des winterlichen Schmutzes an den Ärmeln. Sie sah aus wie eine kleine Lumpenpuppe, eine abgegriffene, kaputt geliebte Puppe, von ihrer sechsjährigen Besitzerin mit ihren allerschönsten Kleidern ausstaffiert. Elsie konnte ein breites Lächeln nicht unterdrücken. Ihre Blicke begegneten sich, und einen Moment lang sahen sie einander in die Augen, sahen und verstanden alles falsch. Der Mund des jungen Mädchens öffnete sich, sie sah offen verletzt aus und schaute weg, als wäre es ihr tatsächlich peinlich, bevor sie schneller ging und vorbei war. Elsies Lächeln erlosch, eine Sekunde lang hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre hinter dem Mädchen hergelaufen, hätte sie am Arm gefasst und ihr gesagt, dass es nicht so gemeint gewesen war. Ganz und gar nicht! Aber das
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