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Eis und Wasser, Wasser und Eis

Titel: Eis und Wasser, Wasser und Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Majgull Axelsson
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tat sie natürlich nicht. Sie schob nur die Hände in die Manteltaschen und zog die Schultern hoch, als säße dort die Schuld, die sie gern abschütteln und zu Boden fallen lassen wollte. Was natürlich nichts half. Das hatte noch nie geholfen.
    Dann kam endlich der Trafalgar Square in Sicht, sie stand am Zebrastreifen und schaute über den Platz, während sie darauf wartete, dass es grün wurde. Der Platz sah ungewöhnlich leer aus, zwar scharten sich die Tauben um die Nelsonsäule, aber nur etwa zehn Menschen bewegten sich auf dem grauen Terrain. Vermutlich Touristen. Und der eine oder andere Engländer auf dem Weg zur Arbeit. Oder zum Zahnarzt. Oder zu einer Geliebten, die …
    »Come on, luv«, sagte ein Mann hinter ihrem Rücken. Sie schaute auf, bemerkte, dass die Ampel auf Grün umgesprungen war, und ging los. Nicht, dass sie eigentlich wusste, was sie hier zu tun hatte. Was sollte man überhaupt auf sehenswerten Plätzen machen, außer dazustehen und sie eine Weile anzuschauen? Die Zeit vergehen lassen, die Sekunden und Minuten vorbeiticken lassen, sich näher an den Rand des Grabs und das große Vergessen bringen lassen.
    Ach was. Sie zog erneut die Schultern hoch und schüttelte sich. Das war doch lächerlich, eine richtig lächerliche Art und Weise zu denken. Sie hatte doch einen Spaziergang gebraucht, oder? Waren es nicht Spaziergänge gewesen, die sie am meisten auf See vermisst hatte? Denn ganz gleich, wie viele Runden sie an Deck lief, es wurde nie zu so etwas wie einem Spaziergang an Land, und schon gar nicht zu einem Spaziergang durch London zum Trafalgar Square.
    »Excuse us, miss«, sagte plötzlich eine Stimme. »Could you?«
    Ein junges Mädchen stand neben ihr und hielt ihr einen Fotoapparat hin, eine junge Frau mit dunklem Haar und hellem Lächeln, und dicht neben ihr stand eine vollkommen ähnliche Frau. Sie waren identisch. Sie hatten sogar den Scheitel auf der gleichen Seite, und sie waren gleich gekleidet in altmodische Jacken und Faltenröcke. Auf keinen Fall Londoner. Touristinnen aus Italien oder Spanien, nach den Heiligenmedaillons zu urteilen, die sie um den Hals trugen. Und Zwillinge. Garantiert eineiige Zwillinge.
    Sie lächelte zur Antwort. Aber selbstverständlich. Die beiden jungen Frauen, Schwestern legten einander den Arm um die Schulter, lehnten die Köpfe gegeneinander und lächelten in die Kamera. Und während Elsie die Kamera anhob und sie sich vors Auge hielt, brannte es vor Sehnsucht in ihr. Früher einmal hatte auch ich …
    Auf ihrem Rückweg fing es an zu regnen, ein feiner, schmutziger Londonregen, der sich seinen Weg zwischen den einzelnen Haaren auf ihrem Kopf bahnte und bald ihre Frisur ruinieren würde. Ohne groß nachzudenken, schob sie die Hand in die Halsöffnung ihres Mantels und ließ die Finger nach einem Tuch suchen, das nicht da war, dann warf sie einen kurzen Blick auf die Uhr und traf eine Entscheidung. Eine Tasse Kaffee. Im nächsten Moment entdeckte sie ein Schild. Tea Room. Sie schmunzelte vor sich hin. Es war, als hätten ihre Gedanken es hervorgelockt.
    Sie ließ sich an einem Fenstertisch nieder und öffnete den Mantel, schaute sich um. Sie war fast allein im Raum. An einem Tisch ein Stück weiter ins Lokal hinein waren zwei ältere Damen in ein leises Gespräch vertieft, ansonsten war es leer. Auf der Straße draußen hatte der Regen zugenommen, die Leute hasteten vorbei, eine Frau mit einer Plastikhaube auf dem Kopf, ein Mann mit Regenschirm, ein Junge, der den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, sie aber nicht zugeknöpft hatte. Wie viele Menschen es doch auf der Welt gab! Und jeder Einzelne war die Hauptperson in seiner eigenen Geschichte, angefüllt mit seinen eigenen Worten und seinen eigenen Erinnerungen, aber auch mit der halb verdrängten Gewissheit, dass all das eines Tages ausgelöscht wäre, aufhören würde zu existieren, dass es das nicht mehr gäbe. Die Stadt würde weiterleben, die Kaufhäuser jeden Morgen ihre Türen öffnen, Kaffee würde serviert werden, Zeitungen gedruckt, Geld den Besitzer wechseln, Kleider genäht werden, um dann abgetragen und weggeworfen zu werden, aber jeder Einzelne von denen, die dieses Leben erschufen, wäre auf dem Weg zum Tode. Niemand kam davon.
    Elsie schloss die Augen. Was war nur heute mit ihr los? Warum dachte sie die ganze Zeit an Dinge, an die kein vernünftiger Mensch denken sollte?
    Sie schaute in ihren Kaffee, als könnte sie in ihm die Antwort lesen, und seufzte dann so laut, dass die beiden

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