Eisblume
zu machen: ›Deine Tochter. Das ist deine Tochter.‹ Genau das, was man in so einer Situation braucht. Und irgendwann stand Nathalie plötzlich auf, schrie, dass sie aufhören sollten, und haute ab. Und darum denke ich, dass sie bereits seit Dienstagnacht verschwunden ist.« Er leerte seine Tasse, atmete tief durch, anscheinend erleichtert, ihm die Geschichte anvertraut zu haben.
Brander seufzte schwer, dachte eine Weile über die Worte seines ehemaligen Nachbarn nach. »Schön und gut, dass du mir das erzählst«, antwortete er schließlich. »Aber was meinst du, wie oft wir diese und ähnliche Geschichten hier hören? Sie ist abgehauen. Ob Dienstagnacht oder Mittwochmorgen ist eigentlich egal. Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie von zu Hause abgehauen ist und rumstreunt. Hast du einen Anhaltspunkt, wo sie sich gewöhnlich herumtreibt? Kennst du Namen von Leuten, mit denen sie sich vielleicht getroffen hat?«
Schubert schüttelte bedrückt den Kopf. »Ich weiß, dass sie kein Einzelfall ist. Aber ich hatte die Hoffnung, sie auf den richtigen Weg zu bringen. Sie braucht einfach jemanden, der sich um sie kümmert, der ihr mal zuhört. Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass sie mir ein bisschen vertraut.« Er kramte in der Innentasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Er reichte es Brander. »Das hat sie geschrieben. Es lag in ihrem Klassenarbeitsheft. Ich hatte am Montag eine Deutscharbeit schreiben lassen.«
Brander faltete das Papier auseinander. Es war in ungelenker Handschrift beschrieben:
DUNKELHEIT
UMGIBT MEINE SEELE
FÄNGT SIE EIN
MIT EINEM GROSSEN TUCH
HÄLT SIE FEST
SCHMIEGT SICH DICHT AN
HÜLLT SIE EIN
MIT EINEM GROSSEN TUCH
UMSCHLIESST SIE
MIT EINSAMEN SCHATTEN
BEDECKT SIE
MIT EINEM GROSSEN TUCH
IN DER NACHT
FÜHRT KEIN WEG ANS LICHT
VERSTECKE MICH
UNTER EINEM GROSSEN TUCH
ERWARTE
DEN TAG VERGEBENS
»Das klingt nicht besonders fröhlich.« Brander legte das Blatt auf seinen Schreibtisch. »Klaus, sprich doch einfach noch mal mit deiner Klasse. Vielleicht kennt irgendjemand wieder irgendjemanden, der Kontakt zu Nathalie hatte und eine Vermutung hat, wo sie sein könnte.«
»Sie hat das Blatt doch nicht zufällig in dem Heft liegen lassen. Sie braucht dringend Hilfe!«, erklärte Klaus Schubert mit Nachdruck.
»Die Hilfe kann man ihr aber nur geben, wenn sie sie annimmt. Außerdem müssen wir das Mädchen erst einmal finden.« Brander deutete auf das Blatt. »Kann ich das kopieren?«
»Ja, natürlich. Kannst du … kannst du mir Bescheid geben, wenn ihr sie gefunden habt?«
»Eigentlich …« Brander presste die Lippen zusammen, nickte stumm.
Er hatte Klaus Schubert zum Ausgang begleitet und saß anschließend wieder nachdenklich an seinem Schreibtisch. Nach dem Gespräch fiel es ihm schwer, sich auf den Fall Vockerodt zu konzentrieren, bei dem er das Gefühl hatte, in eine Sackgasse zu laufen. Am Ende befand sich eine große Mauer, hinter der sich des Rätsels Lösung verbarg. Aber so sehr er sich auch streckte, noch konnte er nicht einmal ansatzweise über diese Mauer hinübersehen.
Während er stumm dasaß, fiel ihm mit Schrecken ein, dass er Julian bereits seit zwei Tagen nicht mehr angerufen hatte. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Noch gestern Nachmittag hatte er seinem Bruder versprochen, dass er sich weiterhin um den Jungen bemühen wollte. Eilig, als ginge es um Sekunden, wählte er Julians Handynummer.
»Hm«, brummte ihm sein Neffe nach dem vierten Freizeichen entgegen.
»Hallo, Julian. Wie geht’s?« Brander verzog das Gesicht. Was für ein dummer, banaler Einstieg! Dem Jungen ging es beschissen! Fiel ihm denn nichts Besseres ein zu fragen?
»Bestens«, kam auch prompt die unehrliche Antwort.
»Julian, ich weiß, dass es dir nicht gut geht.«
»Was fragst ‘n dann so blöd?«, fuhr Julian ihn unbeherrscht an.
»Kann ich was für dich tun?«
»Ihr sollt mich alle in Ruhe lassen. Lasst mich alle endlich in Ruhe mit eurem Gesülze! Das geht mir auf den Sack!«
»Julian …«
Zu spät, der Junge hatte aufgelegt. Brander fühlte sich hilflos wie selten. Mit dir redet Julian wenigstens, echoten die Worte seines Bruders in seinem Kopf. Das war doch kein Reden! Das war Wut und Ablehnung. Was sollte er nur tun? Wie konnte er Julian erreichen? Langsam begann er, sich mehr Sorgen um Julian als um Babs zu machen. Er wählte erneut Julians Handynummer, stützte den Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die freie
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