Eisblume
was ich hier mache«, zögerte sein Gegenüber erneut.
»Das kann ich dir leider auch nicht sagen, weil ich nicht weiß, was du uns erzählen willst.« Brander öffnete kurz die Hände und faltete sie wieder zusammen. Er konnte Schubert die Entscheidung nicht abnehmen.
»Ich mache mir Sorgen. Nathalie ist ein schwieriges Mädchen. Sie ist erst seit Anfang des Schuljahres bei uns. Du weißt das vielleicht aus euren Akten. Sie ist eine Einzelgängerin, eine notorische Schulschwänzerin, und sie ist sehr aggressiv. Gegen ihre Mitschüler, gegen Lehrer, gegen sich selbst.«
»Aggressiv heißt?«
»Sie prügelt sich immer wieder mit ihren Mitschülern. Wegen Nichtigkeiten, eigentlich meistens völlig grundlos. Wenn sie meint, dass jemand sie böse angeguckt hat, geht sie auf ihn los. An ihrer letzten Schule hat sie sogar eine Lehrerin attackiert. Deswegen ist sie jetzt bei uns.«
Brander runzelte die Stirn. »Was bedeutet attackiert?«
»Sie fühlte sich ungerecht behandelt und ist in der Stunde aufgestanden und mit geballten Fäusten auf ihre Lehrerin losgegangen.«
»Und worum genau machst du dir jetzt Sorgen?« Einzelgängerin, aggressiv. Unweigerlich schossen Brander die Bilder vom Amoklauf in Winnenden durch den Kopf. Schuberts Worte beunruhigten ihn zusehends.
»Um Nathalie. Sie ist schwierig. Aber sie ist nicht bösartig. Sie weiß einfach nur nicht, wie sie sich wehren soll, wie sie sich Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen kann. Und das versucht sie, durch ihre Aggressionen zu kompensieren. Am Anfang, als sie zu uns kam, hat sie natürlich versucht, die gleiche Masche wie an ihrer alten Schule durchzuziehen. Ich wollte es erst mit Strenge probieren, aber da macht sie gleich zu. Ohne geht es natürlich auch nicht. Ich kann nicht zulassen, dass sie Mitschüler verprügelt. Es gab also gleich in der ersten Woche einen Verweis, und das Resultat war, dass sie nicht wieder zur Schule kam. Ich habe ihre Eltern zu mir bestellt, die aber nicht gekommen sind. Also bin ich zu ihr nach Hause gefahren. Da war sie nicht. Aber ich habe zumindest mal ein Bild von ihrem Elternhaus bekommen. Sie lebt bei ihrer Mutter und deren Freund. Wenn du mich fragst, beides Alkoholiker. Dem Freund von Nathalies Mutter ist das Mädel im Weg, und ihre Mutter … die ist völlig überfordert mit der Situation.« Schubert hielt inne. »Hast du überhaupt Zeit, dir das alles anzuhören? Ich kann’s auch kurz und knapp …«
»Passt schon. Erzähl weiter.«
»Ich habe Nathalie ein paar Tage später abends im Park am Anlagensee entdeckt. Sie war völlig zugedröhnt. Tabletten, Alkohol. Lag in ihrer eigenen Kotze auf dem Rasen. Ich habe deine Kollegen informiert, und der Rettungsdienst hat sie abgeholt. Ich bin so lange bei ihr geblieben, habe ein bisschen auf sie eingeredet. Was soll ich sagen? Drei Tage später saß sie plötzlich wieder in meinem Unterricht, und am Ende der Stunde kommt sie zu mir und bedankt sich. Ich hab nicht gedacht, dass sie mich in ihrem Delirium überhaupt erkannt hatte. Aber irgendwie habe ich sie da wohl ein wenig erreicht. Ich habe sie gebeten, nach der Schule noch zu bleiben, um mit ihr zu reden. Natürlich ist sie nicht geblieben. Aber sie kam von da an relativ regelmäßig zur Schule, und ich hatte auch das Gefühl, dass sie sich ein wenig in die Klasse integrierte. Nicht, dass sie Freundschaften schloss, aber sie hielt sich mit ihren Aggressionen und Beleidigungen etwas zurück. Ich bin sogar der Meinung, dass der Deutschunterricht ihr wirklich Spaß gemacht hat. Sie ist nicht dumm, und ihre Arbeiten waren gut.«
Schubert trank einen Schluck Kaffee, holte tief Luft, um zum letzten Kapitel zu kommen. »Letzten Dienstag hat es dann wieder richtig gekracht. In der Pause hat sie ein anderes Mädchen fürchterlich verprügelt. Wir haben die Mädchen auseinander gebracht, aber Nathalie ist uns dann irgendwie entwischt. Wir wissen nicht, was genau vorgefallen ist. Du hast zehn Kids, die drum herumstehen, und jeder erzählt eine andere Version der Geschichte.«
»Oh ja, das kenne ich nur zu gut.« Brander nickte. Mit Zeugenaussagen war es oft nicht anders.
»Ich bin abends zu ihren Eltern und habe versucht, mit ihnen zu sprechen. Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen. Nathalie war sogar zu Hause, und ich habe sie zu dem Gespräch dazu geholt. Ich fragte sie, was denn los gewesen wäre, aber sie antwortete nicht. Saß da, stumm wie ein Fisch. Der Freund von Nathalies Mutter begann Frau Böhme Vorwürfe
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