Eisblume
Humor hatte Beckmann noch nicht eingebüßt.
»Lach du nur. Trink mal einen Schluck.« Beckmann zeigte hustend Richtung Küche. »Los, hol dir ‘ne Tasse.«
Brander gehorchte, goss die grüne Flüssigkeit in seine Tasse und trank einen Schluck. Sein Gaumen zog sich zusammen, und auch die Augen wurden zu kleinen Schlitzen. »Uaah! Was ist das denn?«, brachte er mühsam hervor.
Beckmann gelang ein müdes Grinsen. »Hab ich doch gesagt. Das Zeug ist so bitter. Das ist unglaublich.«
Brander hielt Cecilia die Tasse hin, die vorsichtig daran nippte und gleichfalls das Gesicht verzog.
»Und das soll gesund sein?«
Beckmann nickte achselzuckend.
»Da hab ich was Besseres für dich.« Brander reichte dem Patienten sein Mitbringsel.
Beckmann zog den Karton aus der Tüte. »Bist du verrückt? Ein Ben Nevis!« Er konnte seine Freude über das Geschenk nicht verbergen. »Da war ich mal mit Pierre!«
»Habt ihr eine Besichtigung gemacht?«
»Was denkst du denn? Erst rauf auf den Berg und danach Whiskyverkostung«, krächzte Beckmann. Er trank mit Leidensmiene einen Schluck Tee. »Pierre hat keinen Alkohol vertragen. Er war total süß, wenn er etwas getrunken hatte.« Sein Blick wurde wehmütig bei der Erinnerung an seinen verstorbenen Mann.
»Ceci und ich waren auch schon dort und haben uns die Legende des Dew of Ben Nevis angehört.«
»Oh ja! Der Dew.« Beckmanns Lächeln kehrte zurück. »Die haben in ihrem Schankraum auch leckere Scones. Habt ihr die Scones probiert?«
Brander sah grinsend zu seiner Frau.
»Seit unserem ersten Urlaub in Schottland nennt Andi mich ›Scone-Monster‹, weil ich die Dinger so gerne mag«, gestand sie schmunzelnd.
»Oh, dann back ich dir mal welche«, erklärte Beckmann.
»Werd erst einmal wieder gesund.«
Beckmann öffnete den Karton und zog die Flasche heraus. »Jawohl, und den trinken wir …« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. »… wenn ich wieder fit bin.«
»Sofern du diese Miese-Tee-Kur überlebst«, gab Brander zu bedenken. »Wie heißt das Zeug?«
»Artemisia. Hilft wohl auch gegen Malaria.«
»So wie es schmeckt, hilft es gegen alles.« Brander schüttelte sich.
Sonntag
Es war drei Uhr vorbei, als das Telefon klingelte und Brander mitten aus einer Tiefschlafphase riss. Er deutete Cecilia an, weiterzuschlafen und schlich müde zum Telefon.
»Warum hat sie das gemacht?«, überfiel Julian ihn, kaum dass Brander sich gemeldet hatte.
Brander stöhnte tonlos, tappte im Dunkeln ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. »Das weiß ich leider nicht, Julian.«
»Ich versteh das nicht. Warum? Warum hat sie das getan?«
Brander hörte die Not in der Stimme des Siebzehnjährigen. Am Rande zum Erwachsenwerden und in diesem Augenblick ein verzweifeltes Kind. Welche Worte gab es, um ihn zu trösten?
»Wenn ein Mensch Depressionen hat, dann ist er manchmal sehr, sehr verzweifelt, und dann macht er vielleicht Dinge, die er selbst nicht verstehen kann. Die er sonst nie machen würde.«
Stimmte das? Er wünschte sich, er hätte sich alles viel genauer von Cecilia erklären lassen.
»Und wenn sie es wieder tut? Scheiße, Mann …« Julian begann zu weinen.
Wenn er doch nur bei ihm sein könnte, um ihn in den Arm zu nehmen. »Hey, hey, es ist okay …«, versuchte Brander sanft, auf den Jungen einzureden.
»Nichts ist okay. Gar nichts!«, presste Julian mühsam hervor. Wütend, traurig, verwirrt.
»Ich weiß …«
»Warum redet ihr alle so eine Scheiße, Mann? Was ist, wenn sie es wieder tut?«
Brander wusste keine Antwort. »Deine Mutter ist jetzt in einer Klinik, da wird ihr geholfen. Und sie wird sicherlich eine Therapie machen. Es braucht Zeit, aber es wird …«
»Warum muss sie in diese Klinik? Sie ist doch nicht verrückt!«
»Nein, das ist sie nicht.«
»Ich darf nicht zu ihr. Warum lassen die mich nicht zu ihr?«
So viele Fragen, die der Junge mit sich herumtrug. So viele Ängste. »Das ist wohl so, bei einer Therapie. Sie muss erst einmal selbst wieder mit sich ins Reine kommen. Und sie hat sicherlich auch wahnsinnige Schuldgefühle euch gegenüber.«
»Aber ich bin ihr doch nicht böse. Ich will doch einfach nur, dass wir wieder zusammen sind.«
»Bist du ihr wirklich nicht böse?«, wagte Brander zaghaft einzuwenden.
Julian schwieg.
»Es wird alles wieder gut, aber es braucht Zeit.«
»Kann ich zu euch kommen?«
Natürlich, setz dich in den nächsten Zug, hätte Brander beinahe spontan gesagt. Dann besann er sich. »Natürlich kannst du
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