Eisblume
Hand und starrte auf die Schreibtischplatte. Mit der anderen hielt er das Telefon an sein Ohr. Vor ihm lag noch Nathalies Text. Verstecke mich unter einem großen Tuch. Sich vor der Welt verstecken. Diese Worte hätten gerade auch von Julian kommen können.
Das Freizeichen ertönte mehrere Male, dann wurde sein Anruf auf den Anrufbeantworter umgeleitet.
»Julian, ich bin’s noch mal, Onkel Andi.« Onkel Andi, so nannte Julian ihn schon lange nicht mehr. »Ich würde dir gern helfen, aber ich weiß nicht, wie ich das tun soll, wenn du immer einfach auflegst. Was du erlebt hast, ist schrecklich. Und ich habe nur eine Ahnung davon, wie es dir gerade geht. Ich bin für dich da. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, dann ruf mich an. Wir können auch über Fußball quatschen oder Musik. Was du willst. Lass uns einfach nur ein bisschen reden. Ich hab dich lieb.«
Er legte das Handy zur Seite, strich sich mit beiden Händen kräftig über den Kopf. Würde Julian den Anrufbeantworter abhören? Würde die Nachricht helfen, die er ihm hinterlassen hatte? Er sah auf den Zettel vor sich. Gab es irgendjemand, außer dem Lehrer Klaus Schubert, der sich um Nathalie Böhme sorgte?
»Wenn du das alles hörst und siehst, fragst du dich, wie du dein Kind jemals gesund und unbeschadet durch das Leben bringen willst.« Es war drei Uhr nachmittags, als Hendrik Marquardt wieder ins Büro zurückkehrte. Er ließ sich erschöpft auf den Besucherstuhl in Branders und Peppis Büro fallen.
»Hast du wenigstens etwas erfahren?«, fragte Peppi mitfühlend. Sie war von Magnus Neidhart unverrichteter Dinge zurückgekommen. Der Totschlag an Vockerodt war bei den Prostituierten und ihren Freiern anscheinend kein Thema gewesen.
Hendrik zuckte müde die Achseln. »Ein einziges Mädchen habe ich getroffen, das Nathalie ein bisschen näher kannte. Aber die hat sie Dienstagabend zuletzt gesehen. Das hilft uns auch nicht weiter.«
Brander horchte auf. »Vielleicht doch. Was hat sie erzählt?«
»Sie hat Nathalie am Neckarstauwehr getroffen. Da stehen ein paar Bänke, und sie sagt, dass sie da manchmal zusammen abgehangen haben. Dienstagabend saß Sofie – so heißt das Mädchen – da, und irgendwann wäre Nathalie gekommen. Sie wäre super schlecht drauf gewesen, hätte zwei Zigaretten geraucht und dabei nur geflucht. Das ganze Leben wäre beschissen, ihre Mutter eine blöde Fotze, ihr Stiefvater ein Wichser.«
Hendrik hob entschuldigend die Hände. »Sorry, das ist O-Ton. Na ja, so genau müsst ihr’s auch nicht wissen. Sie war jedenfalls stinksauer. Sofie wollte dann nach Hause gehen, weil ihr kalt war. Es hatte ja letzten Dienstag so geschneit. Sie hat Nathalie gefragt, was sie vorhätte. Nathalie hat gesagt, sie wolle zu Ricky gehen. Das muss gegen halb elf abends gewesen sein.«
»Ricky?«
»Ja, ist wohl so was wie ihr Freund. Der hat eine eigene Wohnung, und bei dem hat sie schon öfter übernachtet.«
»Und wo wohnt Ricky?«
»Tja, das wusste Sofie leider nicht.«
»Wie heißt dieser Ricky mit bürgerlichem Namen?«
»Auch da: keine Ahnung. Sie sagt, er wäre einer von den Junkies, die sich am Europaplatz herumtreiben. Ein dünner Spargeltarzan. Ich werd mal mit den Kollegen von drüben sprechen, vielleicht ist’s einer von ihren Kandidaten.«
Mit »drüben« meinte Hendrik das kleinere Nebengebäude der Polizeidirektion, in dem unter anderem die Kriminalinspektion 2 untergebracht war – deliktspezifische und täterorientierte Ermittlungen: Betäubungsmittel, organisierte Kriminalität, Raub, Erpressung. Wenn dieser Ricky schon länger in der Szene war, bestand eine sehr große Chance, dass man ihn dort kannte.
»Ja, hak da mal nach. Ihr Lehrer war vorhin hier.« Brander berichtete von dem Gespräch mit Klaus Schubert. Er reichte Hendrik die Kopie des Textes.
»Wow, nachdem, was ich bisher von dem Mädchen gehört habe, bin ich ehrlich überrascht. Für eine Vierzehnjährige kann sie sich sehr gut ausdrücken.«
»Aber anscheinend nur auf dem Papier, vielleicht hat sie es irgendwo abgeschrieben«, überlegte Brander.
»Helfen wir ihr tatsächlich, wenn wir sie wiederfinden und nach Hause bringen?«, fragte Hendrik nachdenklich.
»Wir müssen sie nicht nach Hause bringen«, überlegte Brander. »Wir können mit dem Jugendamt sprechen. Vielleicht kann man sie über die Sophienpflege erst einmal irgendwo anders unterbringen. In einer Wohngruppe oder in einer Pflegefamilie, irgendwo, wo sich jemand um sie kümmert.«
»Wenn
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