Eisblume
jederzeit zu uns kommen, aber vielleicht solltest du erst einmal mit deinem Vater reden. Er leidet sehr darunter, dass du nicht mit ihm sprichst.«
»Der!«, entgegnete sein Neffe trotzig. »Der war doch nie da, wenn wir ihn gebraucht haben. Immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten.«
»Er liebt dich, Julian. Und unter anderem geht er ja auch arbeiten, damit ihr ein Dach über dem Kopf habt und etwas zu essen.« Diese Antwort fiel sicherlich in den Bereich pädagogische Plattitüde. Es war natürlich möglich, dass Daniel sich nicht genug um seine Familie gekümmert hatte. Aber in dieser Situation mussten doch alle eine Chance bekommen, Fehler wiedergutzumachen.
Julian entgegnete nichts.
»Wir machen einen Deal«, schlug Brander vor. »Du redest in Ruhe mit deinem Vater, und dann schauen wir, wann du zu uns kommst.«
»Hmm.«
»Du musst doch auch noch ein paar Wochen zur Schule, oder? Es sind noch keine Ferien.«
»Ich geh nicht hin.«
»Hey, du machst in zwei Jahren dein Abi«, versuchte er Julian zu motivieren.
»Kann mich eh nicht konzentrieren.«
Das war verständlich. »Was ist denn mit deiner Freundin? Hast du mit ihr mal gesprochen?«
»Die hat Schluss gemacht.«
»Oh«, entfuhr es Brander überrascht. »Wann?«
»Letzten Dienstag. Deswegen war ich doch früher zu Hause und hab Mutti …« Seine Stimme brach. »Scheiße …«
»Julian, ich …« Brander schloss die Augen. Was war letzten Dienstag alles um ihn herum passiert? Eine Trennung, ein Selbstmordversuch, ein Toter, ein vermisstes Mädchen. War Vollmond gewesen? Wäre er Esoteriker, würde er den Grund dafür vielleicht in der Mond-Sterne-Konstellation suchen oder Erdstrahlen oder was auch immer für übernatürliche Mächte für dieses Chaos verantwortlich machen. Aber er war kein Esoteriker. War das Leben Zufall, oder gab es für all die Geschehnisse einen kausalen Zusammenhang, den der Mensch in seinem beschränkten Dasein nicht erfassen konnte? Hätte Julian sich einen netten Abend mit seiner Freundin gemacht … Brander mochte nicht weiter darüber nachdenken.
»Julian, bitte rede mit deinem Vater. Das ist sehr wichtig«, bat er seinen Neffen noch einmal inständig.
»Hmm«, brummte Julian, und Brander war sich nicht sicher, ob es Zustimmung oder Unwillen war.
»Und dann lässt du dir von Oma ein paar Vanillekipferl backen. Die sind echt lecker.« Wie oft hatte Brander die Plätzchen schon von seiner Mutter als Seelentröster oder bei Prüfungsstress bekommen? Manchmal halfen diese Kleinigkeiten, und die Welt sah nicht mehr ganz so finster aus.
Seine Bemerkung entlockte dem Jungen ein leises Lachen. »Oma hat schon für einen ganzen Basar gebacken. Ich denke, wir gehen demnächst in ein Waisenhaus und verteilen da tütenweise Plätzchen.«
Brander spürte ein sehnsuchtsvolles Ziehen in seinem Herzen. Das war sein Neffe. Der Junge würde sich nicht unterkriegen lassen. Er brauchte seine Zeit. Er brauchte seinen Trotz und seine Wut und seine Trauer. Aber er war stark genug, mit der Situation fertig zu werden, da war Brander sich sicher. »Geht’s dir ein bisschen besser?«
»Hmm.«
»Kann ich noch irgendetwas für dich tun?« Er mochte das Gespräch nicht einfach beenden, wusste auch nicht wie.
»Nein«, sagte Julian. »Ich glaub, ich weck jetzt Papa.«
»Klingt nach einem guten Plan«, stimmte Brander zu.
»Onkel Andi?«
»Ja?«
»Ich darf doch zu euch kommen, oder?«
»Du bist uns immer willkommen. Du kannst hier Schnee schippen, es hat geschneit.«
»Cool, ich bring mein Snowboard mit.«
Langlaufskier wären in dieser Gegend eher angebracht, dachte Brander, aber das ist wohl nicht so cool.
Er war müde, als er am Sonntagmorgen beim Frühstück saß. Den Rest der Nacht hatte er nur noch in einem wenig erholsamen Dämmerschlaf verbracht. Zu viele Gedanken kreuzten in seinem Kopf hin und her. Cecilia hörte sich wortlos seinen Bericht von dem Gespräch mit Julian an, legte ihm schließlich die Hand auf den Unterarm und sah ihn liebevoll an.
»Du bist ein richtig guter Onkel, weißt du das?«
Er lächelte dankbar, beugte sich zu seiner Frau und küsste sie. »Bekomme ich jetzt deine psychologische Analyse auf meine Frage von gestern?«
Er hatte Cecilia am Abend den Text von Nathalie Böhme gegeben, den ihr Lehrer gefunden hatte. »Du erwartest doch nicht allen Ernstes von mir, dass ich dir irgendetwas dazu sage?«, hatte sie gesagt und ihm die Kopie wieder zurückgegeben. Auch jetzt bewegte sie entschieden den Kopf
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