Eisblume
entlanglief und Vockerodt einfach so überfiel? Brander zeichnete einen Stiefel zwischen die Skizzen von Jasmin Risch und Drewitz, führte einen blauen Pfeil vom Stiefel Richtung Blattmitte, malte ein großes Fragezeichen neben den Pfeil.
Es war zum Mäusemelken. Er kam einfach nicht voran.
Den Rest des Sonntags verbrachte er damit, Protokolle zu lesen und jede noch so winzige Spur aus den Berichten herauszufiltern, ohne wirklich fündig zu werden. Es war mühsame Arbeit und hatte so gar nichts von der Action in den Fernsehkrimis, in denen die Kommissare von einem Verdächtigen zum nächsten eilten, Zeugen und Verdächtige vernahmen – natürlich jedes Mal mit spannenden und gewitzten Wortwechseln – und nach neunzig Minuten war der Täter überführt. Nein, hier las er wieder und wieder die immer gleichen Fragen und fast immer auch die gleichen Antworten, Variationen maximal in Wortwahl und Satzbau. Am Gesamtbild änderte sich nichts. Lediglich der Lichteinfall auf seinen Schreibtisch wechselte von Tageslicht vom Fenster zu Neonlicht der Schreibtischlampe.
Am Abend schmerzte ihm der Nacken. Dieses stoische Lesen, Sortieren und Analysieren war Teil seiner Arbeit, ein wichtiger Teil, und früher oder später würde er mit seinem Team den Täter überführen, da war er sich sicher.
Montag
Lüdke kam eine Viertelstunde zu spät. Er hatte Ringe unter den Augen, war unrasiert, sah aus wie jemand, der in seiner Kleidung geschlafen hatte. Vielleicht hatte er das auch. Brander meinte noch eine leichte Alkoholfahne zu riechen.
»Haben Sie getrunken?«, eröffnete er das Gespräch.
»Gestern Abend.«
»War ein bisschen viel, was?«
Ein kraftloses Schulterzucken war die Antwort.
»Lassen Sie uns noch einmal über Nael Vockerodt sprechen.«
Lüdke schnaufte genervt. »Ich habe den Kerl nicht umgebracht. Sie haben mich doch überprüft. Marcus hat mir erzählt, dass Sie bei ihm nachgefragt haben. Warum denken Sie, dass ich es war?«
»Waren Sie es?«, fragte Brander den Studenten direkt.
»Nein!«
»Sie hätten Zeit gehabt. Sie sind gegen elf Uhr abends aus Reutlingen abgefahren. Sie hätten mehr Zeit gehabt als genug.«
»Oh Gott, nein! Woher hätte ich denn wissen sollen, dass der Typ da nachts herumspaziert? Ehrlich, ich habe nichts damit zu tun. Ich bin doch niemand, der durch die Gegend läuft und andere Leute totschlägt.« Lüdke sah den Kommissar verzweifelt an.
»Es war ein Unfall«, räumte Brander ein.
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf, begann nervös an seinem Daumennagel zu kauen.
»Herr Lüdke, wir verdächtigen Sie nicht. Wenn wir Sie tatsächlich einer Tat beschuldigen würden, müssten wir Ihnen das sagen und Ihnen Ihre Rechte vorlesen. Sie hätten das Recht auf einen Anwalt und wären nicht verpflichtet unsere Fragen zu beantworten«, klärte Brander den jungen Mann auf. Hatte Lüdke am Vorabend so viel getrunken, weil er Angst hatte, des Mordes verdächtigt zu werden? Oder weil er schuldig war? Oder nahm ihn diese Geschichte einfach so mit, weil er so sehr mit seiner Exfreundin litt? Oder litt er, weil Jasmin Risch beschlossen hatte, Tübingen den Rücken zu kehren, und so noch unerreichbarer für eine Versöhnung wurde?
»Sie sagten, Vockerodt wäre beliebt gewesen bei den Mädchen. Er hätte geflirtet.«
»Ja.« Lüdke hatte sich wieder etwas gefasst.
»Gab es da vielleicht ein bestimmtes Mädchen?«
»Keine Ahnung. Der hat rumgemacht.«
»Was heißt rumgemacht? Hat er die anderen Studentinnen nett angelächelt oder ist er mit ihnen in die Kiste gesprungen?«, mischte sich Peppi in die Vernehmung ein. Ihr Ton war um einiges ruppiger als Branders ruhige Stimme.
»Weiß nicht. Er hat mal hier gelächelt, mal da gelächelt. So ‘n ewiger Grinser. Ich weiß nicht, ob da irgendetwas gelaufen ist.«
»Sie können uns keine Namen nennen?«
»Nein.«
»Könnte es nicht auch sein, dass er einfach nur nett war, und Sie in Ihrer Eifersucht gehofft haben, dass er etwas mit einer anderen anfängt, damit Ihre Jasmin sich von ihm trennt und wieder frei für Sie ist?« Peppi hatte den Blick herausfordernd auf den Studenten geheftet.
Lüdke biss sich auf die Unterlippe.
»Ich habe recht, oder?«
»Ja, verdammt. Aber ich habe ihm nichts getan!«, schrie Lüdke auf. Seine Nasenflügel blähten sich wütend, und er starrte die Kommissarin an, als wäre sie schuld an seinem Leid.
Peppi atmete tief durch, beugte sich ein Stück weit zu ihm und fixierte den Studenten mit den Augen. »Haben Sie
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