Eisblume
verzog zweifelnd das Gesicht. »Wir brauchen einfach …«, er wedelte mit einer Hand in der Luft, »… mehr.«
Wollte dieser Neuling ihm erzählen, wie er seinen Job zu machen hatte? Brander kamen einige unschöne Worte aus Nathalie Böhmes Wortschatz in den Sinn. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, rieb sich mit den Händen durch das Gesicht, um dem Staatsanwalt nicht einen unbedachten Kommentar an den Kopf zu werfen. Schließlich sah er sein Gegenüber mühsam beherrscht an. »Das heißt, ich soll die beiden laufen lassen?«
Schmid nickte.
»Und wenn sie es waren?«
»Dann kriegen wir sie auch.« Es klang – trotz der vorangegangenen Kritik – überzeugt aus dem Mund des Staatsanwalts.
Brander dachte über Schmids Worte nach. Die Befragungen von Radeke und Poljakow waren eine Gratwanderung gewesen. Keiner von beiden wusste von dem unausgesprochenen Verdacht. Vielleicht war jetzt tatsächlich der richtige Zeitpunkt, die Befragung abzubrechen und nach weiteren Indizien, nach Beweisen für einen Tatzusammenhang zu suchen. Es musste doch etwas geben! Er würde noch einmal mit Nathalie sprechen, und er würde den Iscans die Bilder der beiden Männer zeigen. Vielleicht hatten sie ja doch irgendetwas gesehen, klammerte er sich an einen winzigen Hoffnungsschimmer. Und gab es da nicht einen Zeugen, der zwei Männer in der Nähe des Tatorts gesehen hatte?
»Herr Brander, Sie kriegen das hin. Ich habe volles Vertrauen in Ihre Arbeit.« Schmid tippte sich mit dem Zeigefinger kurz an die Nase. »Herr Lehmann sagte mir, Sie hätten einen guten Riecher.«
Und dennoch musste er Radeke und Poljakow laufen lassen.
»Scheiße«, entfuhr es Brander, und die flache Hand landete krachend auf dem Tisch.
»Sie bekommen meine volle Unterstützung, Herr Brander. Aber geben Sie mir etwas an die Hand. Ich hasse es, vor Gericht nackt dazustehen. Und ich denke, Sie wollen auch nicht, dass Ihre Arbeit umsonst war.« Schmid stand auf und reichte Brander seine Rechte. Sie fühlte sich etwas klamm an, als hätte er geschwitzt.
Schmid verließ das Büro, und Brander hörte ihn kurz darauf im Flur mit Peppi sprechen. Hatte ihn der Staatsanwalt also ausgebremst. Gut, er könnte Schmids Forderung ignorieren und mit der Befragung fortfahren. Es wäre nicht das erste Mal, dass er seinen eigenen Weg ging. Aber vielleicht hatte Schmid ja recht? War es nicht das Gleiche, was Peppi versucht hatte, ihm klarzumachen? Was nützte es, wenn er Radeke oder Poljakow tatsächlich ein Geständnis entlockte, das vor Gericht null und nichtig wäre? Das die Männer sofort widerrufen würden, sobald ein Rechtsanwalt neben ihnen saß. Was machte ihn überhaupt so sicher, dass er auf der richtigen Fährte war?
Er sah auf seinen Adventsteller, suchte das Päckchen mit der Nummer elf und steckte sich die Praline in den Mund. Er dachte an Beckmann, der ihm dieses Geschenk gemacht hatte. An Daniel, Julian und Babs, die Probleme hatten, spürte die Schuldgefühle, weil er nicht bei ihnen war. Er dachte an Nathalie und ihre hilflose Wut. Er sah die Augen seiner Frau vor sich, ihr trauriger Blick am frühen Morgen beim Frühstück. Eine Traurigkeit, die er ihr nicht nehmen konnte. Jasmin Risch, Vockerodts Familie. War er nicht all diesen Menschen etwas schuldig?
Mit einem Mal fühlte er sich unendlich müde und ausgelaugt. Als hätte jemand den Stöpsel aus einer Luftmatratze gezogen, und nun trieb er schlaff und orientierungslos auf dem offenen Meer, unfähig zu entscheiden, in welche Richtung er weiterschwimmen sollte. War irgendwo Land in Sicht?
»Wie machen wir weiter?« Peppi kam ins Büro und blieb fragend im Raum stehen.
»Die beiden können gehen. Poljakow soll eine Adresse hinterlassen, unter der wir ihn erreichen können.«
»Okay«, kam es etwas verwundert von der Kollegin. »Wie kommt der Sinneswandel?«
Brander sah sie mürrisch an. »Kannst du dir das nicht denken? Ach, verdammt! Wir haben keine Beweise. Wir haben verdammt noch mal nichts!« Zum zweiten Mal an diesem Tag schlug er auf die Schreibtischplatte.
»Der Tisch kann da jetzt aber auch nichts dafür …«
»Lass mich einfach mal ein paar Minuten in Ruhe, okay?«, bat Brander schlecht gelaunt.
Peppi verzog sich.
Der Nächste, der ihn störte, war Manfred Tropper.
»Ich hab dir ein LKW mitgebracht.« Er legte Brander ein Leberkäsweckle auf den Tisch und setzte sich ungefragt zu ihm. »Peppi meinte, du hättest schlechte Laune.«
»Wo ist sie?«
»Mit den Jungs was essen
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