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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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vorstellen«, meinte Martin Abendroth, der neben dem Mann
stand, »Frau Doktor Maybach, Herr Professor Gellert. Herr Professor, wenn Sie
nicht aufpassen, läuft Ihnen Frau Doktor Maybach den Rang meines
Lieblingsdozenten ab.«
    Â»Bei dem Aussehen der werten Frau Kollegin würde ich an Ihrem
Verstand zweifeln, wenn dem nicht so wäre«, antwortete Gellert lächelnd. Er
begrüßte Anna mit wohl dosiertem Händedruck.
    Anna musste lachen: »Hat Herr Abendroth bei Ihnen das Fach Charme
belegt? Er ist nämlich auch nicht schlecht darin.«
    Â»Das glaube ich gerne. Ich jedoch bin lediglich ein trockener,
verknöcherter alter Mann, ein langweiliger historischer Anthropologe, der Ihnen
allerdings liebend gerne bei einem Glas Wein mal darlegen würde, dass dieser
Wissenschaftszweig im Gegensatz zu der Meinung unseres Universitätspräsidenten
durchaus seine Daseinsberechtigung hat. Vielleicht kann ich Sie auf meine Seite
ziehen.«
    Â»Mit Vergnügen. Ich weiß gerade mal, wie man Anthropologie schreibt.
Hoffe ich zumindest. Aber jetzt muss ich zu meiner Sprechstunde.«
    Â»Martin, tragen Sie der Dame die Tasche. Meine Nummer steht im
Vorlesungsverzeichnis«, verabschiedete sich Gellert augenzwinkernd. Anna sah
ihm amüsiert nach und wandte sich Richtung Aufzug. Martin wollte ihr die Tasche
aus der Hand nehmen, doch Anna hielt sie lachend fest. »Das ist mir nun
wirklich zu albern.«
    Â»Mein Professor hat’s befohlen. Und ich tu’s gerne. Geben Sie sich
einen Ruck, und seien Sie altmodisch.«
    Anna gab nach, also stiefelte Martin mit der Tasche neben ihr her.
Einige Studenten kommentierten die Szene mit hämischen Bemerkungen, doch das
schien Martin zu gefallen. Im Aufzug erzählte er Anna, gerade mit Yvonne Kaffee
getrunken zu haben.
    Â»Sie verlieren keine Zeit, was?«, meinte Anna.
    Â»Wir haben fast nur über Sie gesprochen.«
    Â»Ach.« Anna verstummte.
    Â»Ãœber Ihre Beteiligung an dem Mordfall letztes Jahr. Und warum Sie
die Praxis aufgegeben haben.«
    Abrupt nahm ihm Anna die Tasche aus der Hand: »Ich glaube nicht,
dass ich das mit Ihnen diskutieren möchte. Hören Sie auf, in meinem Privatleben
herumzuschnüffeln. Sonst schließe ich Sie aus meinem Seminar aus.«
    Die Aufzugtür ging im vierten Stock auf. Anna ließ Martin stehen und
hastete über den Flur zu ihrem Büro. Die plötzliche Erinnerung an die
Geschehnisse vom letzten Jahr war ihr wie ein Schlag in die Magengrube
erschienen. Übelkeit stieg auf, die sie mit tiefem Durchatmen bekämpfte. Wie
perplex Martin hinter ihr hersah, bevor er die Taste zurück ins Erdgeschoss
drückte, bemerkte sie nicht, aber sie konnte es sich vorstellen. Sie ärgerte
sich über sich selbst, denn sie hatte unsouverän reagiert. Wahrscheinlich war
Martins Interesse an ihr vollkommen harmlos, sie sollte es als schmeichelhaft
auffassen und endlich ihre Panik ziehen lassen, die sie in den Würgegriff nahm,
sobald sie das Gefühl hatte, ein Fremder nähere sich ihr in unklarer Absicht.
Wahrscheinlich war es mal wieder Zeit für eine Supervision. Sie hatte den alten
Herrn sowieso schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Langsam beruhigte sich
ihr Magen wieder.
    Eilig ging sie zur Sekretärin der Fakultät und fragte mit schlechtem
Gewissen, ob schon jemand nach ihr gesucht habe. Ulrike Tanner, eine fröhliche
Frau Mitte fünfzig, arbeitete seit über zwanzig Jahren auf dem Posten und war
inzwischen menschlich und psychologisch so geschult, dass sie sowohl Studenten
als auch Dozenten ihre Sorgen von der Nasenspitze ablesen konnte.
    Â»Kein Problem, Kindchen. Nehmen Sie Pünktlichkeit bei der
Sprechstunde nicht allzu ernst. Normalerweise nutzen die Studenten sie erst
gegen Ende des Semesters. Wenn sie mit allerlei Ausreden kommen, warum die
Seminararbeit noch nicht fertig ist oder sie eine Klausur vergeigt haben.«
    Die wohltuende Lockerheit von Frau Tanner entspannte Anna sofort.
Wahrscheinlich machte sie sich wirklich zu viele Gedanken. Sie bedankte sich
und wollte in ihr Büro gehen, als Frau Tanner sie auf zwei Anrufe hinwies, die
sie vermutlich innerhalb der nächsten Stunde bekommen würde. Gestern hätten
zwei Personen sie vergeblich zu erreichen versucht, und Frau Tanner hatte ihnen
mitgeteilt, dass es zumindest heute während Annas Sprechzeit gesichert sei, sie
an die Strippe zu bekommen. Frau Tanner nahm einen Zettel hervor

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