Eisblut
ihrer Zeitlinie zurück, um die Vergangenheit zu
betrachten, von auÃen, ohne daran teilzunehmen, ohne Angst zu bekommen. Anna
hörte Weinheims Stimme in der Entfernung, die ihr beteuerte, ganz sicher hier
und jetzt zu sein und nur einen Film zu sehen, dort und damals.
Dann sieht sich Anna in ihrer Küche sitzen, an Händen und FüÃen mit
Klebeband an ihren alten Küchenstuhl gefesselt. Ihr Mund verklebt bis an die
Nasenlöcher, sodass sie nur schwer Luft bekommt. Vor ihr steht in entspannter
Pose an den Küchenschrank gelehnt ein gutaussehender junger Mann und trinkt ein
Glas Orangensaft. Er lächelt sie freundlich an. Sie hört ihn sprechen. Mit
einem Ruck reiÃt er ihr das Tape vom Gesicht, Anna kann nur durch gröÃte
Willensanstrengung einen Aufschrei unterdrücken. Er schlägt ihr mit der flachen
Hand ins Gesicht. Ihre Lippe platzt auf und blutet. Gewaltsam zerrt sie an
ihren Fesseln, will nach ihm schlagen, treten, spucken, speien. Er lächelt sie
an und schlägt sie. Wieder. Und wieder. Und wieder. Anna sieht, wie sie sich windet
unter Schmerzen, sie versucht vergeblich auszuweichen, bis sie schluchzend
erschlafft. Er tritt einen Schritt zurück und schaltet betont gelangweilt Annas
Küchenradio ein. Es läuft der zweite Satz von Beethovens siebter Sinfonie. Er
greift mit geschmeidiger Bewegung nach einer schwarzen Ledertasche, die auf dem
Boden liegt. Er zieht ein ebenfalls schwarzes Lederetui hervor und öffnet
prätentiös langsam den daran befindlichen ReiÃverschluss. Lächelnd klappt er es
auf und zeigt es Anna. Anna sieht das Chirurgenbesteck. Sie sieht, wie ihr die
Luft wegbleibt, wie sie unwillkürlich zu hyperventilieren beginnt, wie ihr
schwindlig wird und schlecht. Sie hört sich wimmern. Er nimmt sorgsam ein
Skalpell hervor, streicht mit fast zärtlicher Geste mit der freien Hand Annas
Haare zurück und legt das Skalpell mit der Schneidefläche an Annas linkes
Ohrläppchen. »Hübsche Ohren«, hört Anna ihn sagen, »wie aus Marzipan geformt.
Ich mag Marzipan.« Diese Anna dort in dem Film, sie wimmert so leise, dass es
kaum zu hören ist. Sein Hohnlächeln wandelt sich in ein lüsternes Grinsen. Mit
dem Skalpell öffnet er Annas vor der Brust zusammengeknotetes Handtuch, es
rutscht bis auf ihre Hüften herab. Er öffnet seine Hose und nimmt seinen
Schwanz hervor. Er stellt sich dicht vor Anna und beginnt zu masturbieren. Anna
sieht, dass sie angewidert die Augen schlieÃt und den Kopf zur Seite dreht, so
weit sie kann. Sie konzentriert sich auf Beethoven. Wer hier wohl dirigiert?
Sie mag am liebsten die Einspielung von Solti. Aber das hier, das ist nicht
Solti. Karajan aber auch nicht. Sie taucht hinab in die sich variierende
Wiederholung des Motivs, sie liebt diesen Satz in seiner unendlichen
Melancholie, sie hört das Keuchen nicht mehr.
Seinen Schrei, als er kommt, kann das leise Radio jedoch nicht
übertönen, und Anna spürt ganz deutlich das Aufklatschen des warmen Spermas
quer über ihrem Gesicht. Sie zittert vor Ekel, presst die Augen und die Lippen
zusammen und hält den Atem an, um seinen Geruch nicht in ihren Körper
eindringen zu lassen. Ihre Tränen vermischen sich mit seinem Sperma. In der
Schwärze ihrer geschlossenen Augen sieht sie bunte Lichtblitze, sie sehnt die
Ohnmacht herbei.
»Anna, geh zurück, geh ein paar Schritte zurück, es ist gut, es ist
alles gut, du bist sicher.« Sie spürte die leichte Berührung einer Hand auf
ihrem Arm, Weinheims Stimme drang in ihr Bewusstsein, und sie öffnete die
Augen. Ihr Gesicht war nass von Tränen, sie zitterte am ganzen Körper, ihr war
übel. Da wusste sie, was passiert war. Sie hatte assoziiert, hatte in der
Hypnose ihre sichere Beobachterposition verlassen und sich emotional in die
Erinnerung hineinbegeben, anstatt von auÃen auf sie draufzusehen. Sie hatte ihr
Trauma erneut durchlebt. Sie war noch nicht davon weg.
»Wir haben Arbeit vor uns«, meinte Weinheim begütigend und reichte
ihr sein gebügeltes Stofftaschentuch. Anna schnäuzte sich und nickte: »Gehen
wirâs an.« Ihr Supervisor lächelte: »So kenne ich dich. Du schaffst es, das
weià ich.«
Karen konnte diese Nachlässigkeit kaum ertragen. Wütend
schimpfte sie vor sich hin, während sie ihrer Arbeit nachging. Pete lehnte an
der Wand und schnupperte an seinem Fläschchen mit Pfefferminzöl. Heute
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