Eisblut
Christian mit einer am Boden zerstörten Mutter, die
zur Flasche griff, um ihren Kummer und sich selbst zu ertränken, und ein Sohn,
der, inzwischen von Gewissensbissen geplagt, am Küchentisch saà und leise
weinte. Christian versuchte, etwas Ruhe in die in einen Abgrund gestürzte
Familie zu bringen, doch er fühlte sich dabei so ohnmächtig wie ein
Katastrophenhelfer angesichts unüberwindlicher Trümmerhaufen. Wie sollte
Manuela unter dem Schutt ihres Lebens weitermachen können? Wie könnte sich
Lars, mit bloÃen Händen und blutiger Seele zu seiner Mutter durchgraben, um sie
aus ihrer Finsternis zu holen?
Möglichst sanft befragte Christian Manuela nach dem im Tagebuch
erwähnten Freund, dem Phantom, das sie suchten. Doch Manuela wusste nichts über
ihn, rein gar nichts. AuÃerdem war sie kaum noch in der Lage, einen halbwegs
verständlichen Satz zu formulieren. Sie lallte, weinte, schrie, schlug mit den
Fäusten nach Christian, als er ihr ein Glas Wasser anbot. Christian überlieÃ
sie der Obhut ihres Sohnes und zog sich endlich zurück.
Zu Hause angekommen setzte er sich in seinen ledernen Clubsessel und
blickte zum Fenster hinaus. Er saà einfach da, machte das Licht nicht an, hatte
nicht einmal Lust auf einen Whisky. Er saà da und starrte hinaus in den klaren
Sternenhimmel. Morgen wird es kalt sein, dachte er. Es wird nun jeden Tag
kälter werden. Bis alles gefriert, selbst das Blut in den Adern. Dann wird man
nichts mehr spüren. Keinen Schmerz mehr, keinen Aufruhr. Nur noch Müdigkeit.
Und dann wird man schlafen, einfach nur schlafen.
Tag 7: Freitag, 3. November
»Es gibt verschiedene Spachteltechniken: die Flecktechnik,
die Flächentechnik, Stucco Veneziano und noch âne Menge anderer. Aber ums
Aussehen geht es hier nicht.« Eberhard stand im Konferenzraum vor der Wand, in
der linken Hand einen schwarzen Gummitopf mit frisch angerührter Spachtelmasse,
in der rechten einen breiten Spachtel, mit dem er die Masse sorgfältig in den
mit Acryl gefüllten Riss strich. »Ich könnte auch eine Glasfasermatte
drüberlegen, aber ich hoffe, dass es so reicht. Die Glasfasermatten werfen sich
manchmal auf, und dann sieht es genauso beschissen aus wie vorher.«
Volker saà mit verschränkten Armen am Konferenztisch und sah Eberhard
bei seiner Arbeit zu. »Kein Schwein von uns hat dieser dämliche Riss gestört.
Wieso dich?«
Eberhard glättete seine Spachtelmasse auf der Wand fast liebevoll:
»So ein Riss, das ist der Anfang vom Ende. Zuerst ist er ganz fein, und du
bemerkst ihn kaum. Dann verbreitert er sich, aber du gewöhnst dich dran. Oder
guckst weg. Und wenn du nicht aufpasst, verkommt das ganze Haus, und du
verkommst mit, und die Mäuse tanzen auf den Tischen, und dein Leben zerbröselt
hinter deinem Rücken, während du in die andere Richtung auf die Glotze starrst.
Wehret den Anfängen! Das ist keine Frage von Kosmetik, sondern von Charakter!«
Volker lachte laut auf: »Du könntest auch einfach zugeben, dass du
gerne mit den Händen arbeitest. Kochen, Kindermöbel bauen, Wände verputzen.«
Eberhard trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Es war
perfekt. »Stimmt. Das ist was Reelles, was Ehrliches! Aber darum geht es nicht.
Ich repariere gerne Sachen, mache sie gerne heil, ich will, dass die Welt um
mich herum gut und schön ist, verstehst du?« Er wies mit dem Spachtel auf die
Leichenfotos von Uta Berger und Georg Dassau, die an der Pinwand hingen. »Sieh
dir das an. Da gibt es nichts mehr zu retten. Wir jagen hilflos hinterher, wir
jagen das Böse, und es ist uns immer einen Schritt voraus. Und wenn wir einen
fassen, brütet der Nächste ein paar Häuser weiter schon irgendeine Perversion
aus, und alles geht wieder von vorne los. Manchmal macht mich das einfach
fertig. Es hört nie auf. Der Setzriss hier, der tröstet mich. Ich habe das Problem
gesehen, binâs angegangen und habâs gelöst. So soll es sein!«
»Sagt mal, tickt ihr noch ganz sauber?«, fragte Christian, der im
Türrahmen aufgetaucht war, »wir sind hier doch kein Heimwerkerclub! Da gibtâs
ganz andere Probleme, die wir angehen müssen!« Kopfschüttelnd trat er ein und
nahm sich einen Kaffee aus der Thermoskanne.
Ungerührt ging Eberhard zum Waschbecken, wusch seine Gummischüssel,
die Spachtel und seine Hände: »Dir auch einen
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