Eisblut
Marmorbadezimmer. Als Anna
zurückkam, dampfte schon der Kakao in den Tassen. Sie setzte sich an den
Küchentisch auf eine Holzbank gegenüber von Frau Juncker, die sofort
unbekümmert zu plaudern begann.
»Ich bin ja so froh, wenn der Herr Professor Gäste hat, sonst ist
hier ja nicht mehr viel los. Aber meistens kommen nur die verknöcherten
Wissenschaftler, von denen verirrt sich nie jemand in meine Küche.« Frau Juncker
seufzte in ihren Kakao. »Vor nicht allzu langer Zeit war das anders, da kamen
nachmittags die Freundinnen von Franziska zum Kaffeeklatsch, und manchmal habe
ich mich sogar dazugesetzt und mit ihnen geplaudert.«
»Ist Franziska die Frau von Herrn Professor Gellert?«
Luise Juncker nickte: »Ich bin mit ihr in den Haushalt gekommen. Als
Franzi geheiratet hat. Seit ihrem achten Lebensjahr kenne ich sie schon, ich
war vorher Zugehfrau im Hause ihrer Eltern.«
Anna nahm einen Schluck Kakao, er schmeckte herrlich. »Ich will
bestimmt nicht indiskret sein, aber ich habe gehört, dass sie ihn verlassen
hat.«
»Das ist jetzt ein Dreivierteljahr her. Es war ganz schrecklich für
den Herrn Professor, er hat sie so geliebt. Eingesperrt hat er sich und
gelitten wie ein Hund.«
»Und Sie sind bei ihm geblieben? Wollten Sie nicht mit Franziska
weggehen? Da gibt es doch sicher eine groÃe Verbundenheit zwischen Ihnen.«
Frau Juncker seufzte wieder: »Das hätte ich mir bestimmt überlegt,
aber dazu kam es ja nicht. In der Nacht ist sie verschwunden, ganz heimlich,
hat keinem einen Ton gesagt, nicht mal mir. Hat ihre Koffer gepackt, und weg
war sie. Nach Südamerika, mit ihrem neuen Liebsten.«
Noch immer von der Last der Enttäuschung niedergedrückt, erhob sich
Luise und ging zum Küchenschrank. Sie holte zwei Postkarten und ein Foto aus
einer Schublade hervor und zeigte alles Anna. »Sie hat mich aber nicht
vergessen. Hier, sehen Sie.«
Anna besah sich zuerst das Foto. Franziska Gellert war um einiges
jünger als der Professor, eine wunderschöne, blonde Frau, die Anna irgendwie
bekannt vorkam. Vielleicht war sie Frau Gellert mal im Tante-Emma-Laden an der
Elbchaussee begegnet, wo sie früher oft mit ihrer Mutter zum Einkaufen war.
Bewegt las Anna die beiden Postkarten, die aus Argentinien stammten. Franziska
Gellert entschuldigte sich herzerweichend liebevoll bei Luise Juncker für ihre
heimliche Flucht, aber eine vorherige Ankündigung hätte ihren Entschluss
garantiert ins Wanken gebracht. Dennoch sei sie jetzt sehr, sehr glücklich.
Luise solle sich um den Professor kümmern in diesen Stunden des Schmerzes und
nicht allzu schlecht von ihr denken.
»Da bin ich natürlich bei ihm geblieben. Ohne mich hätte der Herr
Professor das Elend nicht gemeistert, wenn ich das mal in aller Bescheidenheit
sagen darf. Und er ist mir im Laufe der Jahre ja auch ans Herz gewachsen. Ein
guter, angenehmer Mensch, nicht wahr?«
Anna bestätigte das gerne, bedankte sich für den Kakao und erhob
sich. Sie sollte wieder zurück zur Gesellschaft, bevor man ihr Ausbleiben als
unhöflich empfand. Luise bat sie, bald wieder zu kommen. Sie war sehr froh,
dass Gellert sich langsam wieder zurück ins Leben bewegte, und der Anblick
einer hübschen jungen Frau konnte nach Luises Meinung dabei nur helfen.
Hauptsache, das Lächeln kehrte in Gellerts Miene zurück.
Anna durchquerte das Entrée Richtung Bibliothek. Irgendjemand hatte
dort Musik aufgelegt, sie drang leise durch die kassettierte Eichenholztür.
Noch konnte Anna nicht erkennen, was es war, aber sie verspürte plötzlich einen
leichten Schwindel. Irritiert hielt sie inne. Sie stand inmitten der
Eingangshalle und blickte auf die schwarz-weiÃen Rautenfliesen zu ihren FüÃen,
die unversehens einen dreidimensionalen Raum zu öffnen schienen gleich einer
von M.
C.
Escher inszenierten optischen Täuschung. Ihr brach der Schweià aus, sie
zitterte, sie spürte wie Angst ihren Körper und ihre Seele umflutete, die Angst
übernahm die Kontrolle, lähmte sie von den FüÃen an aufwärts, kroch an ihr
hoch, kalt und stetig, Zentimeter für Zentimeter, als würde ein eisiges Gift
sich ausbreiten, bis sie komplett gelähmt war, jeder Muskel, jede Faser, jede
Zelle, die Angst über ihrem Kopf zusammenschlug und sie hermetisch abriegelte,
sodass nichts mehr nach drauÃen dringen konnte, nicht rufen und nicht regen,
einbetoniert,
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