Eisblut
gefangen. Sie spürte die Angst und bekam Angst vor der Angst und
wusste doch, dass sie dagegen ankämpfen musste, ruhig atmen, den Kopf heben,
nur ein winziges Stück, sich aus der Erstarrung befreien, einen Millimeter
vielleicht, der Rest würde dann schon kommen, doch sie sah nach unten, weil ihr
Kopf ihr nicht gehorchte, er nicht und ihre Arme und Beine auch nicht, noch
sonst etwas, sie drohte in diesen Raum unter ihr zu stürzen, in einen Abgrund
aus schwarzen Rauten, die immer näher kamen und gröÃer wurden, sie hörte
jemanden schwer atmen und viel, viel zu schnell, in ihren Ohren brauste das
Blut. Lauter und lauter und lauter und â¦
Weinheim kam aus dem Badezimmer ins Entrée und erkannte auf einen
Blick, was mit Anna los war. Für sein Alter erstaunlich behende sprang er zu
ihr, konnte sie aber nicht mehr halten, als sie wie in Zeitlupe auf den Boden
sank. Er rief Richtung Bibliothek um Hilfe, die Tür wurde geöffnet, Gellert und
einige andere kamen heraus, sahen Weinheim neben der ohnmächtigen Anna auf dem
Boden knien, fragten mit hektischer Bestürzung, was passiert sei, und Anna lag
da, ganz blass im Gesicht, der Rock ein wenig hochgerutscht, und sie sah so
unglaublich schön aus, was auch den um sie herumstehenden Männern auffiel, die
sie fast ehrfürchtig anstarrten. Gellert schrie nach Luise, die herbeigestürzt
kam, die Männer zur Seite drängte und wieder in die Küche lief, um einen
feuchten Lappen und etwas Riechsalz zu holen, und Weinheim befahl, dass endlich
jemand diese vermaledeite Musik ausmachen sollte, diesen verdammten zweiten
Satz von Beethovens verdammter siebter Sinfonie.
Lars war in seiner kleinen Wohnung im Lehmweg und
betrachtete die Ausstattung, die er auf dem Bett vor sich ausgebreitet hatte.
Eine schwarze Lederhose, ein knallenges schwarzes Satinshirt, ein
nietenbesetzter Gürtel, schwarze Springerstiefel und protziger Silberschmuck.
Er würde sich lächerlich vorkommen, das war ihm klar, aber es gab keinen Weg
zurück. Er konnte den Bullen unmöglich sagen, was er wusste, sie würden den Laden
stürmen und alle in die Mangel nehmen. Nein, die Bullen würden nichts
ausrichten können. Es gab keinen anderen Weg, er musste sich als Schaf im
Wolfspelz unter das Rudel mischen und mit den Raubtieren heulen. Ganz wohl war
ihm dabei nicht, er hatte keine Ahnung, wie er sich im Ernstfall verhalten
sollte. Was tun, wenn man ihn unmissverständlich aufforderte, mitzumachen.
Passive Zuschauer hatten in der Szene zwar auch ihre Berechtigung, aber ihm
ging es schlieÃlich darum, Kontakte zu knüpfen und Vertrauen zu schaffen. Doch
wenn er mitmachte, was würde er dabei empfinden? Lars fürchtete sich.
Einerseits wollte er Uta verstehen, wollte wissen, was sie empfunden hatte.
Andererseits verspürte er eine subtile Scheu, sein Leben in Unordnung zu
bringen. Lars hatte seit zwei Jahren eine feste Freundin, mit der er ein
regelmäÃiges, gepflegtes Sexualleben zwischen sauberen Bettlaken führte. Was,
wenn er auf seinem Ausflug in die Niederungen menschlicher Triebe Lust
verspürte? Was, wenn etwas ähnlich Selbstzerstörerisches in ihm steckte wie in
Uta? Oder wenn es ihn im Gegenteil so abstoÃen würde, dass er seine kleine
Schwester posthum verachtete? Lars wusste, dass mit Utas Tod etwas Unbekanntes
in das Leben seiner Familie eingedrungen war. In ihm und vermutlich auch in
seiner Mutter breitete sich etwas Schleichendes aus, das wie Säure die Geländer
der Konvention zersetzte, an denen er sich gemeinhin entlanghangelte in einer
langen Schlange von Konformisten. Lars spürte, wie die Selbstsicherheit, die er
sich in seinem gesellschaftlichen Rahmen erarbeitet hatte, korrodierte. Er
wusste, dass er die Reihe verlieà und sich auf ein Nebengleis begab. Aber war
dieses Unbekannte, das sich in sein Leben fraÃ, das Böse? Oder war es nur das
Fremde?
Als Anna am Abend im R&B, Christians
Stammkneipe in der Weidenallee, ankam, waren die anderen schon alle versammelt.
Nur Christian fehlte noch. Yvonne hatte eine Wette abgeschlossen. Sie war sich
ganz sicher, dass Christian seinen Geburtstag vergessen hatte. Anna war noch
ein wenig wacklig auf den Beinen und auch recht blass, aber ansonsten fühlte
sie sich wieder gut. Nach ihrer Panikattacke hatte Weinheim sie nach Hause
gebracht und dort sofort eine Sitzung mit ihr durchgeführt, die ihr ihre innere
Stabilität zurückgab.
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