Eisblut
Nachmittagstreffen mit Hamburger Wissenschaftlern mitzukommen.
Bislang hatte Anna stets unter fadenscheinigen Vorwänden abgesagt, doch
Weinheim hatte sehr wohl verstanden, welche Abneigung hinter Annas Absagen
steckte. Sie fürchtete schlichtweg, sich unter all den älteren Herren zu
langweilen, die ihrer Vermutung nach nur Eitelkeiten austauschten, indem sie
die eigenen wissenschaftlichen Leistungen, und seien sie noch so lange her, in
den Vordergrund der Gespräche zu rücken versuchten. Als Anna gestern jedoch
hörte, dass das heutige Treffen bei Gellert stattfand, sagte sie zu. Sie fand
Gellert äuÃerst charmant und anregend, und auÃerdem glaubte sie, ihrer neuen
Dozententätigkeit ein wenig Opportunismus und damit zumindest eine versuchte
Annäherung an ein solch illustres Netzwerk zu schulden. Weinheim war unter den
Anwesenden der einzige schon emeritierte Professor, ansonsten saÃen Dozenten
aus den unterschiedlichsten Fachbereichen in kleinen Gruppen zusammen und
tauschten sich aus. Sogar der Universitätspräsident war da und hatte Anna
freundlich begrüÃt. Er kannte ihren Vater gut von dessen früherer Lehrtätigkeit
in der Physik und freute sich, endlich einmal die Tochter kennenzulernen, die
ja nun auch zu seinem Stab gehörte. Gellert machte sich einen gekonnten SpaÃ
daraus, den Uni-Präsidenten mit seinen vornehmlich verwaltungstechnischen
Fähigkeiten aufzuziehen, doch da der sehr amüsiert darauf reagierte, schien es
Anna ein altbekanntes Spiel zwischen den beiden zu sein, dem die anderen
keinerlei Bedeutung beimaÃen. Jedenfalls fühlte sich Anna überraschend wohl in
dem renommierten akademischen Zirkel und bedankte sich bei Weinheim leise
dafür, sie zu dieser angenehmen Ablenkung eingeladen zu haben. Sie stellte ihre
Tasse auf einem Kirschholztisch ab und schlenderte durch die imposante
Bibliothek, deren fast fünf Meter hohe Wände rundum mit prall gefüllten
Bücherregalen bedeckt waren. Zwei Historiker diskutierten vor dem Philosophie-
und Anthropologie-Regal über die Krise der Geschichtswissenschaften im Fin de
Siècle, doch Anna hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie las einen gerahmten Text,
der im Regal stand. Gellert trat neben sie: »Julien Offray de La Mettrie über
die menschliche Fähigkeit zur Imagination.«
Anna las halblaut vor: »Durch ihren schmeichelhaften Pinsel erhält
das kalte Skelett der Vernunft lebendiges und rosiges Fleisch; durch sie blühen
die Wissenschaften, vervollkommnen sich die Künste, sprechen die Wälder,
seufzen die Echos, weinen die Felder, atmet der Marmor â alles nimmt Leben an
unter den leblosen Körpern.«
»Wenn Sie es mit Ihrer schönen Stimme vorlesen, klingt es noch
besser«, meinte Gellert lächelnd.
»Es ist ein wunderbares Zitat, eine wunderschöne Ãberzeugung.«
»Die Sie nicht teilen?«
»Gerade als Psychologin ist mir die Macht der Imagination mehr als
bewusst. Aber aus eigener Erfahrung weià ich, dass sie nicht nur das Wahre,
Schöne, Gute hervorbringt, sondern auch Schrecken, Angst und Panik.«
Gellert sah sie forschend an: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten.
Aber ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung. Falls Sie mal reden wollen.«
»Ich weià das Angebot zu schätzen. Und auch Ihren Feinsinn, Menschen
nicht zu bedrängen.«
Mit einem verständigen Lächeln zog sich Gellert aus dem Gespräch
zurück und wandte sich seinen Historiker-Kollegen zu, denen er scherzhaft polternd
völlige Ahnungslosigkeit über das von ihnen diskutierte Thema bescheinigte.
Anna zog sich aus der Bibliothek zurück in das Entrée der geschmackvollen
Patriziervilla. Auf der Suche nach einem Badezimmer öffnete sie einige Türen,
bis sie sich in der Küche befand. Eine kleine, herzlich wirkende, etwas
rundliche Dame Ende sechzig werkelte darin herum. Als Anna die Tür öffnete,
ging ein Strahlen über ihr Gesicht: »Endlich mal wieder ein weibliches Wesen im
Hause! Kommen Sie herein, Kindchen!«
Anna trat näher und stellte sich vor. Die kleine Frau schüttelte ihr
die Hand. »Ich bin Luise Juncker, setzen Sie sich, wollen Sie auch eine heiÃe
Schokolade? Ich koche gerade Milch auf.«
Anna erklärte, vor allen Dingen zur Toilette zu wollen. Danach würde
sie gerne einen Kakao trinken. Frau Juncker wies ihr den Weg in ein
prachtvolles, in sattem Algengrün gekacheltes
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