Eischrysanthemen
mehr Vincent darüber nachdachte, desto mehr spürte er das Gefühl von vorhin wie eine Flutwelle zurückkommen. Erschrocken riss er sich von diesen Überlegungen los und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es schmerzte. Ganz ruhig, sagte er sich immer wieder. Bald würde Gabriel zurückkommen und dann würden auch seine Gedanken wieder klar werden. Sobald sein Freund ihm versichert hätte, dass er nicht schwul war, würde Vincent das alles als einen unerklärlichen Ausrutscher abtun können. An diese Hoffnung klammerte er sich so fest es ging, denn nur sie bewahrte ihn davor, verrückt zu werden.
Den Kopf an die Wand gelehnt, starrte Vincent ins Leere, während das Licht im Hausflur immer wieder anging, wenn ein Mieter das Haus verließ oder zurückkam, nur um nach drei Minuten wieder zu erlöschen. Vincents Hintern wurde langsam kalt, aber er dachte nicht daran, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Zu Hause wäre er alleine mit seinem Problem, während er sich hier an die Tatsache klammern konnte, dass Gabriel irgendwann nach Hause zurückkehren würde, um ihn von seinen Ängsten zu befreien.
Abermals ging das Licht im Treppenhaus an. Vincent lauschte den Schritten und registrierte, dass jemand sich unbedingt etwas körperlich betätigen wollte und daher nicht den Fahrstuhl nahm. Die Schritte wurden immer lauter und plötzlich stand Gabriel auf der Treppe. Er war ein wenig außer Atem, seine Wangen gerötet und er selbst wirkte verärgert. Dieser Ärger löste sich allerdings augenblicklich auf, als er Vincent bemerkte.
„Hey“, sagte er offenbar müde und kam langsam näher. „Was machst du hier? Wartest du schon lange?“ Er setzte sich neben Vincent auf die Treppe.
„Nicht lange, vielleicht eine Stunde“, gab ihm Vincent zur Antwort und bemühte sich um ein Lächeln, was kläglich versagte. Wahrscheinlich war sogar mehr als eine Stunde vergangen, aber er sah nicht auf seine Uhr, weil es keinen Unterschied gemacht hätte. Man sah ihm sicher an, dass er fertig mit der Welt war, denn Gabriel lud ihn ohne viele Worte in die Wohnung ein.
Gabriels Wohnung hatte eine ganz bestimmte Wirkung auf Besucher. Sie war klein, ein wenig zu vollgestopft und löste das Gefühl aus, vor allem im Winter, diese vier Wände nicht mehr verlassen zu wollen. Zielstrebig ging Vincent ins Wohnzimmer und machte es sich auf dem Sofa bequem, während Gabriel in der Küche hantierte und Tee bereitete. Es war schwer in Gabriels Heim Unruhe zu empfinden, denn das Wohnzimmer strahlte aufgrund einiger antiker Möbel eine zeitlose Beständigkeit aus und erlaubte Vincent bis zu Gabriels Ankunft im Wohnzimmer, die Gedanken beieinander zu halten.
Der Tee war aromatisch und der Duft des Getränks erreichte Vincent schon lange, bevor er die Tasse überhaupt unter die Nase halten konnte. Gabriel setzte sich neben ihn und zog die Beine an.
„Wie war dein Abend?“, fragte Vincent schließlich nach einer Weile, als er endlich das Gefühl hatte, dass die Kälte begann, aus seinen Gliedern zu weichen.
Gabriel seufzte und schloss kurz die Augen. Das war kein gutes Zeichen, wie Vincent sich denken konnte. Wie erwartet, war Gabriels Abend mit seinem geheimnisvollen Lover nicht gut gewesen, und Vincent empfand durchaus Mitgefühl für Gabriel. Sein Freund war niemand, der sich leichtfertig verliebte, aber dieses Mal hatte es ihn schwer erwischt. Liebe auf den ersten Blick. Leider hatte er sich dabei gerade einen Kerl ausgesucht, der in Vincents Augen nicht unbedingt koscher war. Doch sie hatten darüber gesprochen, und Gabriel hatte mehr als deutlich gemacht, dass er keine Hilfe in diesem Punkt wünschte, was Vincent, als sein bester Freund, selbstverständlich respektierte. Außerdem war Gabriel vernünftig genug, um die Sache noch rechtzeitig zu beenden, falls alles aus dem Ruder laufen sollte. Anders als er selbst, wie Vincent sich leider eingestehen musste.
„Und was ist bei dir? Ist das Interview nicht gut gewesen?“, erkundigte sich Gabriel und nippte an seinem Tee.
Nun war Vincent an der Reihe zu seufzen, doch er verkniff es sich. Selbst wenn er wusste, dass sich all seine Gefühle in seinem Gesicht spiegeln würden.
„Tja, ich würde sagen, dass ich mich überschätzt habe. Irgendwie.“ Eigentlich war es nicht nötig, mehr zu erzählen. Gabriel kannte ihn lange genug, um zu wissen, was das bedeutete. Um Vincents entspannten Optimismus, dass sich alles schon irgendwie entwickeln würde, zu untergraben, musste schon wirklich
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