Eischrysanthemen
Beklommenheit durchbrechen. Er schwankte leicht, als er aus dem Fahrstuhl stieg.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte ein Page, der gerade nach oben hatte fahren wollen. Zu einer Antwort war Vincent allerdings nicht mehr fähig. Er flüchtete aus dem Hotel in die frische Winterluft. Es war kalt draußen, auch wenn kein Schnee fiel, und trotzdem hatte Vincent das Gefühl, jeden Moment zu verglühen. Wohin sollte er nun? Nach Hause? Dort würde er nur die Wand anstarren und sich immer wieder die gleiche Frage stellen, wie er sich nur so hatte gehen lassen können. Sich sinnlos zu betrinken würde auch nicht helfen und Marianne diese ganze Angelegenheit zu erzählen, würde er nicht über sich bringen können. Was sollte er also tun? Und dann kam ihm der rettende Gedanke.
Gabriel. Gabriel würde ihm helfen können! Der einzige schwule Mensch, den Vincent näher kannte, würde ihm sicherlich helfen können, das Chaos in seinem Kopf wieder zu richten! Wie von Sinnen rannte Vincent zur Bahn und fuhr schnurstracks zu Gabriel. Noch nie war ihm der Weg bis zu Gabriels Wohnung so lang vorgekommen. Die Gegend, in der sein Freund lebte, war schon fast vornehm zu nennen. Hier kannten sich die Nachbarn, selbst wenn man keinen zu engen Umgang pflegte. Vincent selbst lebte in einem kleinen Künstlerviertel, das ganz fern von den vornehmen Londoner Gegenden war. Für Vincent wäre es ein Graus gewesen hier zu wohnen, aber zu Gabriel passte es. Zu seinem Glück verließ gerade eine Mieterin das Haus und ließ Vincent ein. Jedoch nicht, ohne ihn vorher zu befragen, zu wem er genau wollte. Sie tat es, obwohl sie ihn kannte. So war es eben in dieser Gegend. Erst nach einer längeren Erklärung ließ sie ihn eintreten und ging ihrer Wege. Vincent dagegen rannte in den sechsten Stock und klingelte Sturm an Gabriels Tür.
Nichts. Alles blieb still, und als auch nach dem nächsten Klopfen die Tür nicht geöffnet wurde, wusste Vincent, dass Gabriel nicht da war. Richtig, Gabriel hatte ihm erzählt, dass er an diesem Tag zu einer Vernissage gehen würde und das natürlich mit seinem neuen Lover. Vincent ärgerte sich, denn er hätte ihm wirklich besser zuhören sollen, als sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten. Verdammt!
Er setzte sich verzweifelt auf die Treppenstufen, die in den nächsten Stock führten. Hoffentlich würde Gabriel noch in dieser Nacht nach Hause kommen. Er würde einfach hier warten, ganz gleich, wie lange das dauerte. Selbst wenn er die ganze Nacht auf diesen harten Stufen verbringen musste! Die Überzeugung, dass einzig Gabriel ihm aus dieser verzwickten Situation würde heraushelfen können, ließ ihn stur auf der kalten Treppe sitzen bleiben.
Die Zeit, die er nun zum Nachdenken hatte, bescherte ihm so einige wirre Gedanken. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? War es wirklich der Eifer einen festen Job zu bekommen oder war es sein gekränkter Stolz, der ihn dazu gebracht hatte, das alles mitzumachen? Er konnte nicht abstreiten, dass Kiras Spiel ihn an einem sehr empfindlichen Punkt getroffen hatte – und zwar jenem unterhalb der Gürtellinie, über den Vincent sich nie zu viele Gedanken gemacht hatte. Zumindest nicht, wenn es um Männer ging. Es hatte auch niemals Bedarf bestanden, Gedanken an das Schwulsein zu verschwenden. Vincent war sich immer sicher gewesen, hetero zu sein. Er hatte stets Frauen bevorzugt, wobei Gabriel ihn einmal ausgelacht hatte, weil er offenbar auf jene Sorte Frauen stand, bei denen man nach einem fünfminütigen Gespräch das Bedürfnis bekam, ins Ohr zu gucken, um zu überprüfen, ob auf der anderen Seite Licht zu sehen war.
Nun saß er allerdings hier auf der Treppe und fragte sich, ob die im Scherz von Gabriel aufgeworfene Neckerei, Vincent wäre im Herzen zumindest bi, nicht doch wahr sein konnte. Er musste schlucken und bemühte sich darum, den Gedanken möglichst schnell abzustreifen. Gerade jetzt musste natürlich ein Bild von Kira vor seinem inneren Auge auftauchen. Vincent war fast, als würde er nicht nur den heißen Atem an seinem Ohr spüren, sondern auch die tastenden Hände auf seinem Körper, welche ihn so ungemein angemacht hatten. Was war es gewesen? Die schräg gestellten dunklen Augen oder die feinen Gesichtszüge? Was immer es auch war, es hatte Vincent auf eine so lustvolle Art erregt, dass er seine Hemmungen, mit einem Mann so weit zu gehen, einfach fallen gelassen hatte, um sich dem Genuss hinzugeben. Es war unmöglich gewesen, sich zu entziehen. Je
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