Eisenhand
reiten. Und als wir abzogen, überspielten sie taktvoll ihre Erleichterung.
Als mit den Kalenden des November ein neuer Monat anbrach, war ich alles gründlich leid: die erfolglose Suche, die Flußüberquerungen auf wackeligen Pontons und die halb überfluteten alten Straßen auf ihren schlingernden Holzgerüsten. Also sprach ich ein Machtwort und erklärte, wir würden dorthin reiten, wo man endlich wieder festen Boden und trockene Füße bekam.
So setzten wir über in den Gau der Friesen.
B UCH V
SÜMPFE UND WÄLDER
GERMANIA LIBERA
November 71 n. Chr.
»Der Legionslegat Munius Lupercus wurde nebst anderen Geschenken der Veleda zugesandt. Diese, eine
Jungfrau aus dem Stamme der Brukterer, übte eine
weitreichende Herrschaft aus, entsprechend einer alten
Sitte bei den Germanen, wonach sie viele Frauen für
Prophetinnen und, mit dem Wachsen des
Aberglaubens, sogar für Göttinnen halten.«
Tacitus, Historien , IV, 61.
XLIII
Es fiel schwer, zu glauben, daß Rom früher das Land bis fast zur Elbe für sich beansprucht hatte. Drusus, sein Bruder Tiberius und Germanicus, sein Sohn, hatten sich jahrelang abgerackert, um ein großes Stück des freien Germanien zu erobern. Dazu bedienten sie sich des Zangenangriffs und rückten auf zwei Seiten gleichzeitig vor, nämlich von Moguntiacum im Süden und vom Rheindelta im Norden. Varus und sein tragisches Mißgeschick hatten diesen Eroberungszügen ein Ende gesetzt. Doch auch heute zeugten noch etliche Spuren von der Zeit, da Rom sich vorgegaukelt hatte, diese wilden Moorgründe zu beherrschen. Statt auf direktem Wege nach Batavodurum zurückzukehren, fuhren wir vom Delta bis zum Rheinarm Flevo auf dem Drusus-Kanal hinunter, einem Wunderwerk der Technik, das man sich nicht entgehen lassen durfte.
Südlich des Flevo, wo wir wieder an Land gingen, gab es kaum noch Spuren der römischen Besatzung, die vor sechzig Jahren zu Ende gegangen war. Der stets ungeduldige Lentullus wollte wissen, wann wir endlich in eine Stadt kämen. Ich erklärte ihm ziemlich schroff, daß es hier keine Städte gebe. Es fing an zu regnen. Ein Pferd strauchelte und riß sich die Achillessehne. Wir mußte es abschirren und, noch in Sichtweite des Flevo, zurücklassen.
»Na, Marcus Didius, was wissen wir über die Friesen?« flachste Justinus, als wir im Schutz der Dämmerung verstohlen unser erstes Lager aufschlugen.
»Nehmen wir an, sie sind ein friedfertiges, viehzüchtendes, getreideanbauendes Volk, dessen sehnsüchtige Liebe dem Meer gilt – und hoffen wir, daß ihre Rinderherden gefährlicher sind als sie. Aber Spaß beiseite: Die Friesen wurden unterworfen – nein, ich muß das taktvoller formulieren! – sie einigten sich mit den Römern auf einen von unserem hochverehrten Domitius Corbulo ausgearbeiteten Allianzvertrag. Das ist noch gar nicht lange her, Tribun.« Corbulo war ein gestandener Soldatengeneral, ein Feldherr, neben dem Petilius Cerialis wirkte wie ein ausrangierter römischer Feuerwehrhauptmann.
»Aha! Und wo waren die guten Friesen während des Aufstandes?«
»Natürlich im Schulterschluß mit Civilis!«
Wir ritten durch flaches, offenes Küstengebiet und hatten den Waldgürtel noch nicht erreicht. Für uns war diese Landschaft eintönig, trist und öde; wir vermißten Naturschönheit und mediterrane Wärme. Aber für einen Bataver oder Friesen, der hier geboren war, hatten das unendliche Panorama von Meer und Himmelsgrau und die unermüdliche Herausforderung der Naturgewalten durch Überschwemmungen und Sturmfluten vielleicht auch ihren Reiz.
Ein Großteil der Region machte einen verlassenen Eindruck. Blühende Siedlungen wie in Gallien sah man kaum. Selbst Britannien war bis auf ein paar wilde Küstenstriche ein dicht bevölkertes, freundliches Land. Germanien dagegen wollte anders sein. Vereinzelte Häuser oder bestenfalls ein kunterbuntes Gewirr von Hütten und Ställen war alles, was wir entdecken konnten.
Die Leute hier führten – ihrem Ruf entsprechend – ein abgeschiedenes Leben. Wenn ein Stammesangehöriger den Rauch seines Nachbarn erkennen konnte, wurde er unruhig und wäre am liebsten hinübergeritten; aber nicht zu einem geselligen Nachtessen mit anschließendem Würfelspiel, sondern um den Nachbarn umzubringen, seine Familie in die Sklaverei zu verkaufen und Haus und Hof zu plündern. Seit der römischen Besetzung des anderen Rheinufers hatten diese rüden Sitten wahrscheinlich erst recht Überhand genommen. Jetzt hatten die Stämme
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