Eisenkinder
Freiheit anfangen sollte, wusste auch niemand so genau. Es gab keine Vorbilder, die bestimmte Ideen oder Ideale vertraten. Wir waren die, die Ideen hatten.
»Es gab keine Regeln mehr«, sagt Oliver Marquardt, der als DJ Jauche Platten auflegt, in dem Buch Der Klang der Familie . In dem Buch geht es um Techno und ich habe mit Techno nichts zu tun und trotzdem war es so. Es gab keine Regeln mehr.
Es stimmt wahrscheinlich nicht, es muss ja neue Regeln und neue Gesetze im vereinigten Deutschland gegeben haben. Es gab nur niemanden, der darauf achtete, dass sie eingehalten wurden.
»Man konnte auf der Straße neben Polizisten kiffen und es gab keinen Ärger. Die Polizisten aus der DDR kannten das ja eh nicht, und der Rest hatte andere Sorgen. Es gab so eine Gruppe aus Magdeburg, die haben sich immer Autos geklaut, um nach Berlin zu fahren. Zum Raven, die haben das dann wahrscheinlich hier stehen lassen, weil sie zu druff waren«, erinnert sich DJ Jauche.
Man hatte solche Jungs wie die Magdeburger damals überall. In Eisenhüttenstadt. In Chemnitz. In Prenzlau. In Jena. Überall.
Ich klaute keine Autos und nahm auch keine verbotenen Drogen. Ich empfand aber eine ähnliche Langeweile. Ich hatte ein Auto, einen Dacia, für 300 DM von meinem Onkel gekauft. Es wurde mein Wohnzimmer. Ich fuhr mit meinem Auto die Lindenalle hinab, vorbei an den Geschäften, die jetzt leer standen, weil alle lieber zu den billigen Discountern gingen, rechts um die Post herum die Straße hinunter und drehte eine Runde.
In der Erich-Weinert-Allee gab es eine Aral-Tankstelle. Dort hingen meine Freundin und ich oft ab.
Wir saßen im Auto, kurbelten das Fenster hinunter. Wir guckten uns die anderen Autos an. Wir guckten nach links, wir guckten nach rechts. Wir sahen ein Auto, fünf Minuten später tauchte es von der anderen Seite wieder auf. Jeder drehte so seine Kreise, wir kannten bald die üblichen Kunden. Wir prägten uns Autokennzeichen ein. Und wenn wir ins Eastside gingen, prüften wir schon auf dem Parkplatz, wer da war.
Die Autos, die nicht aus der Gegend kamen, kannten wir schnell. Es gab einen BMW mit Hamburger Kennzeichen und einen Opel aus dem Lahn-Dill-Kreis, wo immer das auch lag.
Wenn wir Geld hatten, kauften wir uns abends bei Aral eine Flasche Sangria und teilten sie uns. Danach fuhr ich ins Eastside . Wenn ich zurückkam, drückte ich in der Lindenallee auf das Gaspedal, bis es nicht mehr weiterging. Wir flogen durch die Stadt. Wir waren ganz allein im Weltall.
Eisenhüttenstadt brennt
Die Stadt veränderte sich. Die Schlote des EKO qualmten weniger, an manchen Tagen schien es, als sei das Feuer ausgegangen. Große Limousinen mit westdeutschen Kennzeichen fuhren vor. Männer in Anzügen stiegen aus, sie gingen grußlos an den Männern vorbei, die Transparente in der Hand hielten. Stirbt das EKO , stirbt die Stadt, stand auf ihnen. Dreitausend Mann waren schon entlassen worden. Innerhalb eines Jahres. In der Schule hatten wir früher vom Manchester-Kapitalismus gehört, jetzt erlebten wir den Manchester-Treuhand-Kapitalismus.
Ein Bild von damals habe ich vor Augen, wie ich in meinem Bett lag. Es war dunkel, schon spät, ich schreckte kurz auf. Ich hatte etwas gehört. Es war nach elf, vielleicht halb zwölf, normalerweise säße ich um diese Uhrzeit im Eastside , in der Disko und würde darauf warten, dass der DJ ein gutes Lied spielte. Aber das Schuljahr hatte gerade erst angefangen, in diesem Jahr würde ich Abitur machen. Meine Zimmergenossin lag gegenüber, schlief fest. Noch einmal krachte es. Es klang wie ein Silvesterknaller.
Aber es gab kein Feuerwerk. Es war auch nicht der 31. Dezember, sondern der 1. September 1992. Der Tag, den wir früher Weltfriedenstag nannten.
1992 sprach keiner mehr von kalten, heißen oder sonstigen Kriegen.
Im Trockendock begrüßten sich die Jungs unter den Augen der Sozialarbeiterinnen mit Heil Hitler. Da es der einzige von vierzehn Jugendklubs in Eisenhüttenstadt war, der die Wende überlebt hatte, grüßte man entweder zurück oder trieb sich lieber auf der Straße herum.
Jahre später lese ich vom Winzerclub in Jena, zweihundert Kilometer entfernt, in dem sich ab 1991 ein gewisser Uwe Mundlos aufhielt und seinen späteren Mordkomplizen Uwe Böhnhardt traf. Dort wurden die Rechten in Ruhe gelassen, sogar Skinhead-Bands durften auftreten. »Akzeptierende Jugendarbeit« hieß das Konzept, das offensichtlich zur gleichen Zeit auch in Eisenhüttenstadt im Trend lag.
In den
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