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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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ausfällt.
    Andererseits: Wie breit war die Basis in der DDR , auf der es idealistische Ziele gab?
    In die Gegend, in der ich wohnte, waren nach der Wende viele Neonazis gezogen. Wenn ich abends am S-Bahnhof Nöldnerplatz ausstieg, hatte ich Angst, den kürzeren, aber dunklen Pfad zum Wohnheim zu benutzen. Einige Studenten waren schon überfallen worden. Ich machte lieber einen größeren Bogen.
    3. September 1994
    Streit zu Hause. Ich verschwinde. Ich wünschte, jemand würde mich davon abhalten.
    Mir wurde irgendwann zu viel Freiheit gewährt. Ich glaube, anderen in meinem Alter geht es auch so.
    Sie schneiden sich die Haare ab, rasieren sich den Schädel, obwohl sie lieber lang trügen. Sie küssen irgendwelche Typen, die sie gar nicht mögen. Sie hoffen, jemand hält sie auf, straft sie. Aber es passiert nichts. Lass den Jungen doch, er muss selbst wissen, was er tut. Sagen die Alten im Dorf. Dann pinnt er sich die Deutschlandkarte mit den Grenzen von 1939 an die Wand und dreht die Stereoanlage auf. Wir wollen nur eingeschränkt werden, auch wenn wir das nie zugeben würden.
    Woran sollen wir uns orientieren, wenn wir alles dürfen. Bis das Gesetz greift, ist es zu spät.
    Alles ist erlaubt, keine Grenze darf nicht überschritten werden. Da sind wir wieder bei der Selbstbestimmung.
    Täglich liest man von Überfällen auf Ausländer. Schändung von Friedhöfen. Dauernd grölen Glatzköpfe rechte Parolen und pöbeln Leute in der S-Bahn an. Es ist kein politisches, sondern ein soziales Problem! Wie ist das jetzt mit den Grenzen?
    Wenn ich das heute lese, bin ich überrascht, wie viel ich damals schon erkannte – und wie blind ich gleichzeitig war.
    Nicht nur die anderen, die sich den Schädel rasierten und die Deutschlandkarte in den Grenzen von 1939 aufhängten, waren empfänglich für einfache Wahrheiten. Auch ich sehnte mich nach Übersichtlichkeit, nach Einfachheit, nach einer Heimat. Ich hätte wahrscheinlich auch Islamistin, Scientologin oder vielleicht, unter besonderen Umständen, Neonazi werden können. Es war nur eine Frage, wer mich zuerst ansprach.

Brüder und Schwestern
    Ich war in Eile, ich rannte durch die Republik, ich verschickte Bewerbungen für Praktika in Zeitungsredaktionen, immer aus Angst, später als Taxifahrerin zu enden, wenn ich mich nicht genügend anstrenge. Meinen Eltern erzählte ich nichts von dem Druck, den ich spürte. Sie sahen nur, wie unabhängig und selbstständig ihre älteste Tochter war. Ich wollte sie nicht belasten. Ich hätte auch nicht gewusst, wie sie mir hätten helfen können. Sie kannten niemanden bei einflussreichen Stellen und sie wussten auch nicht, wie man Bewerbungen am Computer schrieb.
    Im Frühjahr 1995 machte ich eine Bekanntschaft, die mein Leben verändern sollte. Für eine Hospitanz ging ich nach Hamburg und zog in eine WG mit einer Frau, die nur wenige Jahre älter war als ich, eine Modedesignerin.
    Obwohl Hamburg viel reicher und fremder war, wirkte die Stadt auf mich weniger bedrohlich als Berlin, die Großbaustelle. Die U-Bahn war keine richtige U-Bahn, sondern ähnelte einer überdimensionierten Modelleisenbahn, die auf Stelzen durch die Stadt glitt. Kein Krümelchen lag in den Wagen auf dem Boden, blonde Menschen saßen selbstzufrieden auf den Sitzen und schauten aus dem Fenster.
    Die Hamburger hielten ihre Stadt für die schönste der Welt.
    Die Bahnhöfe trugen lustige Namen: Sternschanze, Schlump, Mümmelmannsberg. Das klang eher nach den sieben Zwergen als nach Großstadt. Was sollte Schlimmes in einer Stadt passieren, deren U-Bahn-Stationen Schlump und Mümmelmannsberg hießen? Ein Überfall auf Schneewittchen? Die Mümmelmänner schlagen zurück? Nachdem ich monatelang auf einer Baustelle geschuftet und abends einsam in einem Lichtenberger Wohnheim über die Grenzen der Freiheit nachgedacht hatte, fühlte ich mich schon auf der U-Bahn-Fahrt zur WG seltsam beschwingt und heiter.
    Das Haus, in dem ich die nächsten zwei Monate wohnen sollte, stand an einer großen Straße im Stadtteil Winterhude. Gleich am Eingang gab es einen Bäcker, daneben reihten sich Geschäfte, die teuer aussahen. Auf fünfzig Metern konnten sich die Hanseatinnen dreimal die Haare fönen lassen, im Haarlekin , im Haarexpress und im Haarkontor . Das Restaurant Arizona servierte Steaks.
    Wahrscheinlich gab es diese Läden schon seit zwanzig Jahren, und es würde sie auch zwanzig Jahre später noch geben.
    Auf jemanden wie mich, in dessen Leben in den vergangenen Jahren

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