Eisenkinder
hätte lieber mit Katharina im Wohnzimmer gesessen, aber ich traute mich nicht rüberzugehen. Ich hörte den Fernseher laufen. Ich aß die Schoko-Hasen auf und hoffte, dass es Katharina am nächsten Tag nicht auffiel.
Ich merkte erst gar nicht, wie religiös sie war. Religion war etwas für Schwache, sie schien nicht der Typ. Nur als mir einmal im Gespräch ein »Oh Gott« herausrutschte, reagierte sie komisch. Sie guckte streng, und mahnte, dass ich so etwas bitte nicht mehr sagen solle, solange ich in ihrer Wohnung wohne.
So etwas?
Sie sagte, ich hätte gegen das Zweite Gebot verstoßen.
Ich konnte mich nicht mal an das erste erinnern.
Ich kam aus der DDR , dem Land der Atheisten. Nach vierzig Jahren Repressionen gegen die Kirche gab es nirgendwo auf der Welt weniger Gläubige als im Osten. Man hatte sich in einem Leben ohne Gott eingerichtet, selbst am Ende, zu Beerdigungen, holte man lieber einen Redner als einen Pastor. Das ist bis heute so.
Religion hatte bei uns zu Hause nie eine große Rolle gespielt. Meine Mutter ging einmal im Jahr zu Weihnachten in die Kirche. Wie die meisten Kinder im Osten waren meine Geschwister und ich nicht getauft worden.
Von den Zehn Geboten hatte ich als Siebenjährige gehört, in der Christenlehre. Wir waren eine kleine Gruppe gewesen, vielleicht zehn Kinder aus den Dörfern der Umgebung, die einmal die Woche ins Pfarrhaus kamen. In den Dörfern hatte die Religion überlebt, wenn auch nur als Ritual. Es war zu DDR -Zeiten üblich, dass Bauernkinder Konfirmation und Jugendweihe zusammen machten. An Weihnachten füllten sich die Kirchbänke, dann fror man auf den Holzbänken, wie aus einer perversen Lust heraus, sich vor dem großen Fressen und Saufen, zu dem Weihnachten geworden war, selbst zu bestrafen.
In der Christenlehre las der Pastor aus der Kinder-Bibel vor und erzählte von Jesus. Danach ging er um den Tisch und gab jedem ein Stück Westschokolade in die Hand. Es war kein schlechter Deal.
In der zweiten Klasse ging ich trotzdem nicht mehr hin, weil ich den Pastor nicht leiden konnte und nicht mehr an einen Mann mit weißem Bart im Himmel glauben wollte. Ich glaubte ja auch nicht mehr an den Weihnachtsmann. Als ich nach Eisenhüttenstadt zog, verschwand der Glaube völlig aus meinem Leben. In Eisenhüttenstadt gab es nicht mal Kirchtürme.
In der schicken Hamburger Altbauwohnung versuchte ich mich an das, was ich als Christenlehre-Kind gelernt hatte, zu erinnern. Du sollst nicht stehlen, du sollst Mutter und Vater ehren und du sollst nicht die Ehe brechen. Das waren drei. Welches war das zweite?
Katharina half mir schließlich und sagte das Gebot auf:
»Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.«
Oh. Das war das zweitwichtigste Gebot?
Katharina nickte, es wäre nur erlaubt, Gott in der Not anzurufen, ihn zu preisen und ihm zu danken, erklärte sie. Fluchen beschmutzte den Namen des Herrn. Dafür käme man in die Hölle. Nicht nur »Oh Gott«, sondern auch »Mein Gott«, »Oje«, »Meinje«, »Herrgott«, »Herrje« sowie »Gottogott« waren ab sofort verboten.
Ich hörte schweigend zu und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich sagte dauernd »Oje« oder solche Redewendungen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass sich jemand durch ihren Gebrauch beleidigt fühlte.
Aber meine Mitbewohnerin meinte das ernst. Das war kein Witz. Ich fand das durchgeknallt und war zugleich beeindruckt, wie sehr sie ihren Gott verteidigte, selbst bei solchen Kleinigkeiten. Sie funktionierte wie eine Soldatin.
Wie würde sie erst reagieren, wenn ich wirklich etwas Fieses über ihren Gott sagte? Mit Prügeln, mit Ausgehverbot?
Mir fiel danach auf, dass Katharina öfter über Gott redete, sie sprach über ihn, als wäre es nicht eine abstrakte Idee, sondern ein Freund. Ihr Gott. Sie begann ihre Sätze gern mit: »Und dann hat Gott zu mir gesagt.«
Ich merkte nicht, dass sie meistens über sich redete. Ihre Pläne, ihre Wohnung, ihr Gott.
Sie las mir abends aus der Bibel vor, den Korinther-Brief.
»Nun bleiben aber Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
Der Spruch wurde tausendfach vorgetragen, missbraucht, benutzt, ein ewiges Tauf-, Konfirmanden- und Hochzeitsmotto, wahrscheinlich ist kein anderer Bibelspruch so abgenutzt, aber mich, das DDR -Kind, konnte man damit 1995 beeindrucken. Ich war gerührt und wollte
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