Eisenkinder
mir den Spruch aufschreiben. Das sei nicht nötig, sagte Katharina und schenkte mir ihre Bibel. Ich bedankte mich überschwänglich. Ich hatte jemanden gesucht, an dem ich mich orientieren konnte. Jetzt hatte ich jemanden gefunden.
Erst im Nachhinein verstand ich, dass Katharina nur ihre Routine abspulte, sie hatte mich längst als das perfekte Opfer erkannt. Sie wusste, dass ich aus dem gottlosen Osten kam.
Sie erklärte mir, die Entscheidung für oder gegen Gott sei die wichtigste Entscheidung, die man im Leben zu treffen habe, wichtiger als die Wahl des Berufs oder des Part-
ners. Denn wer sich nicht für Gott entscheide, lande in der Hölle.
Als ich meinen Mund verzog, weil mir das Wort Hölle so albern vorkam, wurde sie ernst. Sie sagte, die Hölle wäre nicht nur ein heißes Feuer, sondern der schrecklichste Ort, den ich mir vorstellen kann. Ein nicht enden wollender Alptraum. Ich fragte, was mit den Menschen sei, die getauft sind, wie meine Mutter, kommt sie in den Himmel? Katharina schüttelte den Kopf.
Der sanfte Druck gehörte auch zum Programm, das ich später selbst lernen würde.
Katharinas Freund, Frank, war Rettungssanitäter. Er wohnte nicht in Hamburg, sondern in einer Kleinstadt in Süddeutschland. Sie kannten sich nicht gut, aber Katharina war überzeugt davon, dass Frank der Richtige war. Sie hatten sich auf einem Missionseinsatz in Südafrika kennengelernt. Die Missionsgesellschaft hatte nicht erlaubt, dass sie sich küssten oder Händchen hielten. Sie durften sich nur heimlich treffen, das erhöhte den Reiz. Sie hatten gebetet, und ihnen sei klar geworden, dass sie zusammengehörten. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wollten sie sofort heiraten.
Wenn Katharina ihre Geschichte vortrug, klang alles logisch und nachvollziehbar.
Sie zeigte mir ein Foto, auf dem sie mit ihrem Freund zu sehen war. Er sah auch sehr gut aus, mit Dreitagebart und längeren, lockigen Haaren. Ich war mir sicher, noch nie ein hübscheres Paar gesehen zu haben. Optisch passten sie perfekt zusammen.
So viel Schönheit strahlte auch auf mich ein wenig ab. Ich war stolz, bei Katharina wohnen zu dürfen.
An einem Sonntagmorgen fragte Katharina mich, ob ich zum Gottesdienst mitkommen wolle. Mich interessierte dieser Gott, der so streng auf seine Namensrechte achtete wie ein amerikanischer Konzern und der sich auch als Heiratsvermittler betätigte. Außerdem wäre ich mit Katharina überall hingegangen. Als ich in Berlin war, hatte ich mich allein gefühlt, orientierungslos, das vermeintliche Selbstbewusstsein meiner Kommilitonen hatte mich eingeschüchtert, die Widersprüche der Zeit hatten mich durcheinandergebracht, auf einmal fand ich jemanden, an den ich mich klammern konnte. Ich verehrte sie still und sehnte mich nach Anerkennung von ihr. In ihrem Badezimmer benutzte ich ihren teuren Lippenstift und guckte im Spiegel, wie ich aussah. Danach wusch ich die Farbe schnell wieder ab.
Der Gottesdienst fand im Norden Hamburgs in einer umgebauten Fabrik statt. Nichts erinnerte an eine Kirche, wie ich sie kannte: kein Turm, keine Orgel, keine Holzbänke.
Mein Blick glitt durch den modernen vertäfelten Saal, ich sah eine Videoleinwand und eine große Lichtanlage. Im Saal füllten sich langsam die Stuhlreihen. Es lag eine Vorfreude in der Luft, die sich auf mich übertrug. Auf der Bühne lehnten Instrumente, als würde gleich ein Popkonzert losgehen, selbst ein Schlagzeug entdeckte ich. Vorn prangte ein dezentes, gläsernes Kreuz. Ansonsten deutete nichts darauf hin, dass es sich um eine Kirche handelte.
Später lernte ich, dass viele Freikirchen so gestaltet waren, um nicht abschreckend auf Ungläubige zu wirken. Bei meinem ersten Besuch wusste ich noch nicht mal, was eine Freikirche war, wie viele Ausprägungen es gab, worin der Unterschied zwischen »evangelisch« und »evangelikal« bestand.
Ich merkte nur, dass meine neue Freundin mit einer gewissen Verachtung über die Landeskirchen sprach. Sie bemängelte, dort gebe es kaum »wiedergeborene Christen«. Wiedergeboren, das klang für mich nach Esoterik, nach Buddhismus. Ich dachte an Männer, die behaupteten, in ihrem früheren Leben der Zar von Russland gewesen zu sein oder ein Hund. Aber damit hatte das, was Katharina meinte, offenbar nichts zu tun. Ich musste noch viel lernen. Katharinas Kirche gehörte einem unabhängigen Bund an, der 1874 in Wuppertal gegründet wurde und zu dem heute 426 Gemeinden mit rund vierzigtausend Mitgliedern zählen.
Ich war ein
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