Eisenkinder
Ostdeutschland. Jeder fünfte Westdeutsche war noch nie im Osten, fand eine repräsentative Umfrage heraus – 23 Jahre nach der Wende. Umgekehrt waren nur neun Prozent der Ostler noch nie im Westen.
Meine Freundin von der Bild -Zeitung nahm die Banane und zwang sich, ihren Chef anzulächeln. Jeden Tag. Man durfte keine Schwäche zeigen. Sie lernte mehr, arbeitete härter als alle anderen, und bald machte sie sich auch über die Ostler lustig. Anders kam man nicht weiter.
Ich wollte keine Ostlerin mehr sein, aber eine Westlerin wollte ich auch nicht werden. Ich suchte nach einer neuen Welt, mit neuen Regeln, neuen Ritualen, einer neuen Sprache und einer neuen Familie.
Ich las keine Romane mehr, sondern die Bibel. Ich hatte eine King-James-Bibel, eine Gute-Nachricht-Neuübersetzung, die Luther-Übersetzung und die Thompson-Studienbibel. Selbst in der Uni rannte ich zwischen den Seminaren aufs Klo, kniete vor dem Klodeckel und redete mit Jesus. Meine neue Sprache würde mir später in der Yoga-Stunde wiederbegegnen, aber zunächst erschien sie mir wie eine Geheimsprache. Sorgen und Gefühle werden an Gott abgegeben , Herzen werden geöffnet , Ruhe wird geschenkt . Alles im Passiv, nie tauche ich als handelnde Person auf.
Ich lese in meinem Tagebuch die Worte Frieden, Ruhe, Versöhnung , sie sind als Sehnsucht formuliert, als Wunsch nach Harmonie. Es ist, als herrschte in meinem Kopf immer noch der Kalte Krieg, als suchte ich nach einem System, das Ordnung in das Chaos bringt.
Mir fallen die vielen Vergleiche zu Mutter und Vater auf, während meine richtigen Eltern gar nicht mehr auftauchen. Die Sätze aus meinem Tagebuch sind in einem Mix aus Englisch und Deutsch formuliert. Der Kitsch, die Widersprüche, das Unplausible störten auf Englisch weniger.
I have been adopted god’s child.
Gott hat mich adoptiert. Ich hatte eine neue Familie. Als hätte ich zuvor nie eine gehabt.
Nicht alle wandten sich so von ihren Eltern ab und suchten sich Ersatzfamilien. Aber bei vielen, die die Wende als Kind oder Jugendliche erlebt haben, drehte sich danach das Verhältnis. Die Jüngeren passten sich an, lernten, zogen in den Westen, während die Älteren allein vom Alltagsleben überfordert schienen. Meine Eltern wissen bis heute nicht, wie man einen Geldautomaten bedient. Sie schlossen Versicherungsverträge ab, die sie nicht brauchten.
Die Familie zu Hause schien eine Falle, die mich daran hinderte, weiterzukommen.
Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, dann erzählte ich wenig von meinem Leben. Sie hatte starke Migräneanfälle, sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als ihren Kopf. Sie sagte, sie sei depressiv und vielleicht war sie das auch. Sie redete über Backrezepte und Migränetabletten. Sie erzählte, wer im Dorf ein neues Auto und wer ein Kind bekommen hatte. Sie redete über Menschen, deren Namen mir nichts sagten. Manchmal erzählte sie von Menschen, über die sie in der Zeitung gelesen hatte. Ich saß am anderen Ende der Leitung in Hamburg und hörte zu.
Mit 21 wird man von den Gerichten der Bundesrepublik als volljährig anerkannt. Mit 21 kann man sich in Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt zum Bürgermeister wählen lassen. Mit 21 darf man in den USA legal Alkohol trinken. Mit 21 bekamen unsere Mütter früher Kinder.
Ich wollte nochmal von vorne beginnen. Das wurde zumindest versprochen, wenn man sich zur Taufe meldete: eine Neugeburt, nicht weniger. Ich wurde mit 21 selbst wieder zum Kind.
Vorher ging ich zum Friseur, ließ mir die Haare kurz schneiden und dunkel färben. Als ich aus dem Friseur kam und an den Schaufenstern der Mönckebergstraße vorbeilief, schaute mich ein Jungsgesicht an. Ich erkannte mich selbst kaum.
Zur Taufe lud ich ein paar Freunde ein, die zusehen sollten, wie ich nun offiziell mein Leben als Ostlerin ablegte.
Das Taufbecken war in den Boden eingelassen, es war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Der Pastor, Herr Kopfermann, gab mir ein weißes, langes Gewand, das ich über einen Badeanzug zog. Er selbst trug auch ein weißes, langes Gewand, wie man es im Orient bei den Urgemeinden getragen hatte. Wir waren angezogen, als stünden wir bei großer Hitze am Jordan und nicht in einem klimatisierten ehemaligen Konferenzzentrum in Hamburg.
Hinter mir stand noch eine Reihe anderer weiß gekleideter Gestalten, hier wurden neue Menschen wie am Fließband geformt.
Wolfram Kopfermann war der Gründer der Anskar-Kirche und in Hamburg als Seelenfänger bekannt. Als ich ihn
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