Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
etwas geschah. Hatte er sich nicht doch getäuscht? Hatten sich die Lippen vielleicht gar nicht bewegt?
Ezra war schon fast sicher, dass alles nur ein Irrtum gewesen war, ein Trugbild seiner Fantasie. Es war ihm wohl nur so vorgekommen, dass sich Jakobs Lippen bewegt hatten, als wollte er etwas sagen. Schließlich waren die Bewegungen kaum wahrnehmbar gewesen.
Ezra beugte sich zu Jakob hinunter und legte das Ohr an dessen Mund. Er vernahm schwache Atemzüge und jedes Ausatmen schien sich wie eine Bitte anzuhören …
Hilfe
Hilfe
Neunundvierzig
Ezra hob Jakobs Kopf an und starrte ihm ins Gesicht. Die Lebenskraft dieses Mannes war unglaublich. Er hatte sowohl den Schiffbruch als auch das eiskalte Meer und den Transport ins Eishaus überlebt. Schwer verletzt und zerschunden, wie er war, hatte er auch die Nacht an diesem feuchten und kalten Ort überlebt.
»Jakob?«, flüsterte er, wobei er verstohlen zur Tür blickte. »Jakob!«, sagte er lauter. »Jakob?!«
Er sah, wie sich am nicht verletzten Auge ein kleiner Spalt bildete. Das andere Auge war unter dem geronnenen Blut von der Kopfwunde verschwunden.
»Weißt du, wo du bist?«
Ezra legte das Ohr an Jakobs Lippen.
»… Hilfe …«, hörte er wieder, als Jakob ausatmete.
Es war also keine Einbildung. Jakob war noch am Leben. Er hatte den Schiffbruch überlebt.
»Hörst du mich?«, fragte Ezra, erhielt aber keine Reaktion. Er ging mit dem Mund dicht an Jakobs Ohr und wiederholte die Frage.
Der Spalt am Auge öffnete sich ein wenig mehr.
»Ich werde dir helfen, Jakob«, flüsterte Ezra ihm ins Ohr. »Ich bring dich hier raus, ich hol den Arzt, ich beschaff dir Decken, damit dir wieder warm wird. All das werde ich tun, Jakob.«
Der Spalt verkleinerte sich wieder.
»Jakob!«, zischte Ezra ihm ins Ohr.
Der Spalt öffnete sich wieder.
»Ich werde dich retten, Jakob, wenn du mir sagst, wo Matthildur ist. Wenn du mir sagst, was du mit ihr gemacht hast.«
Jakobs Lippen begannen sich zu bewegen, und Ezra hielt sein Ohr hin.
»… ka… kalt …«
»Ich werde dich retten, auf der Stelle, wenn du mir das sagst. Was hast du mit Matthildur gemacht?«
Sein Auge öffnete sich etwas weiter, und Ezra hatte das Gefühl, als würde Jakob ihn anstarren. Seine Haut war blau vor Kälte, die Lippen dunkelblau. Die Zähne im Oberkiefer standen vor. Seine Haare waren starr von gefrorener Gischt, sein schwarzer Wollpullover und die dicken Seemannshosen waren eisverklebt. Das Auge war jetzt halb offen, und Ezra glaubte eine Bewegung der Pupille zu sehen.
»Wo ist Matthildur?«, fragte Ezra.
»… kal…«
»Du hörst mich. Sag mir, wo Matthildur ist, und dann helfe ich dir.«
»… ka … ni …«
»Kann nicht? Kannst du das nicht? Kannst du mir nicht sagen, wo Matthildur ist? Ist es das, was du mir sagen willst?«
Das Auge schloss sich wieder, und die Lippen bewegten sich nicht mehr. Ezra überlegte, ob er den letzten Atemzug getan hatte. Einen Augenblick lang war er unschlüssig. War es zu spät, um sein Leben zu retten? Sollte er loslaufen und Hilfe holen? Sollte er alles in seiner Macht Stehende tun, um diesem Menschen das Leben zu retten? Jakob hatte die Frau getötet, die er liebte. Es hatte Matthildur erdrosselt und ihre Leiche irgendwo versteckt. Hatte er auch nur einen Funken Mitleid verdient?
Der alte Hass loderte in Ezra auf. Sein Gesicht begann zu glühen, er sah nur noch Matthildur in Jakobs Händen vor sich, sah sie um ihr Leben kämpfen, sah, wie sie keine Luft mehr bekam, sah ihre Augen, die um Schonung baten. Jakob hatte ihr keine Schonung gewährt. Er hatte kein Erbarmen mit ihr gehabt.
Ezra stand neben Jakob, der dort auf dem Filetierbrett lag, und sah ihn an.
Wenig später verließ er das Eishaus, um das Material für den Sarg zu besorgen.
Er verschloss die Tür und zog mit einer Schubkarre los, um das Holz damit zu transportieren. Unterwegs begegnete er niemandem, er brauchte mit niemandem zu sprechen. Der Bootsbesitzer hatte gesagt, Holz und Nägel würde er auf dem Baugelände bekommen. Das Werkzeug holte er von zu Hause, Hammer und Säge. Er versuchte, nicht an Jakob zu denken, während er vor dem Eishaus den Sarg zusammenzimmerte. Er dachte an Matthildur, an die Stunden, die ihnen zusammen vergönnt gewesen waren. An die Zukunft, die sie hätten haben können. Er hatte oft an eine gemeinsame Zukunft gedacht – wie ihr Leben geworden wäre, wenn sie hätte leben dürfen. Vielleicht wäre eine Familie aus ihnen geworden, mit
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