Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
nicht mehr in dieser Küche, in diesem Haus, in dieser Welt zu sein. Er hielt das Bild von Matthildur in der Hand und strich mit dem Finger darüber, wie um sie noch einmal zu berühren.
»Vielleicht spielt es keine Rolle mehr …«
Ezra verstummte mitten im Satz.
»Ich weiß nicht, ob es noch eine Rolle spielt«, setzte er nach einer Weile wieder an, »aber ich habe es seitdem an jedem Tag meines Lebens bereut. Von Anfang an war dieser Zwiespalt in mir, ob ich Jakobs Zustand melden sollte. Ich hatte halbwegs gehofft, dass bis zur Beerdigung noch ein paar Tage verstreichen würden und er sich vielleicht selbst bemerkbar machen könnte. Aber ich habe nichts unternommen, um ihn zu retten. Ich habe ihm gewünscht, sterben zu können, ohne dass er sich quälen musste. Ich habe Gott darum gebeten, ihn ohne Qualen sterben zu lassen. Die Vorstellung, dass er sich lebend in seinem Sarg gekrümmt und gewunden hat, ist unerträglich für mich. Aber daran habe ich nicht gedacht, als ich ihn in den Sarg legte. Mit diesem Gedanken brauchte ich mich ja auch nicht auseinanderzusetzen, ich wusste ja nicht, wie es weitergegangen war, wusste nicht, was geschah, nachdem ich den Deckel auf den Sarg genagelt hatte. Im Lauf der langen Jahre glaubte ich, mich mit der Zeit irgendwie mit meinem Gott ausgesöhnt zu haben. Mir stand nur noch der Tod bevor. Doch dann kamst du und …«
Ezra blickte von dem Foto hoch und sah Erlendur an.
»Du kommst hier in mein Haus und sagst mir, dass du dich bis zu seinem Sarg hinuntergegraben hast. Du erzählst mir von den Spuren unter dem Sargdeckel. Du legst mir seine Zähne auf den Tisch.«
»Verzeih mir, wenn …« Erlendur konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
»Jetzt erst begreife ich, was ich ihm angetan habe«, sagte Ezra. Er blickte wieder auf das Foto von Matthildur.
»Du verachtest mich bestimmt mehr, als mit Worten auszudrücken ist«, sagte er.
»Was ich denke, spielt überhaupt keine Rolle«, sagte Erlendur.
»Das sagst du jetzt. Hättest du mir nicht so wie ein Spuk aus der Vorzeit zugesetzt, hätte ich mir das alles nie wieder in Erinnerung rufen müssen.«
»Ich kann mir …«
Wieder schnitt Ezra Erlendur das Wort ab.
»Du bist verdammt noch mal der verbohrteste Starrkopf, der mir in meinem Leben begegnet ist.«
Erlendur wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
»Ich sterbe bald, und dann ist alles ausgestanden«, sagte Ezra.
»Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig für dich gewesen ist, damit zu leben«, sagte Erlendur. »Für einen anständigen Menschen wie dich.«
»Hat sich was mit Anständigkeit«, entgegnete Ezra. »Ich habe versucht, mein Bestes zu tun, habe versucht, auf meine Weise etwas wiedergutzumachen. Du darfst nicht vergessen, was Jakob Matthildur angetan hat. Manchmal versuche ich, das Unrecht zu rechtfertigen, das ich Jakob angetan habe, indem ich die Verantwortung auf ihn abwälze. Dann geht es mir eine Weile besser, aber es währt nie lange.«
»Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich nicht zum ersten Mal davon höre, dass Menschen sich zäh ans Leben klammern und die unglaublichsten Strapazen überleben«, sagte Erlendur. »Menschen, die nach menschlichem Ermessen bei unvorstellbarer Kälte hätten umkommen müssen und doch auf wundersame Weise wieder zum Leben zurückfanden. Weil die menschliche Kreatur manchmal über unerhörte Kraftreserven verfügt.«
»Ich habe oft gewünscht, dass er einfach bei dem Schiffbruch ums Leben gekommen wäre«, sagte Ezra. »Das wäre die einfachste Lösung gewesen.«
»Das Leben ist nie einfach«, sagte Erlendur. »Das ist das Erste, was wir lernen, es ist nie einfach.«
»Wirst du irgendetwas unternehmen?«, fragte Ezra und sah ihn an.
Sie sahen sich geraume Zeit in die Augen.
»Nur, wenn du es selber wünschst«, sagte Erlendur.
»Du überlässt es also mir?«
»Diese Sache geht mich im Grunde genommen gar nichts an. Ich wollte ihr nur auf den Grund gehen.«
»Aber du … Du bist bei der Polizei. Ist es nicht deine Pflicht?«
»Das mit den Pflichten kann kompliziert sein«, sagte Erlendur.
»Letzten Endes interessiert es mich auch gar nicht, was du machst. Es könnte natürlich sein, dass die Leute hier auf einmal anders über mich denken, aber das ist mir egal. Mir ist nur wichtig, dass nicht an der Geschichte über Matthildurs Schicksal gerührt wird. Dass sie so in Erinnerung bleibt wie bisher. So hat ihr Verschwinden etwas tragisch Schönes. Auch wenn es eine verdammte Lüge ist, so
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