Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Überreste zu finden. Nach und nach drang diese Tatsache zu Ezra durch, als er neben der blutverschmierten Leiche auf dem Filetierbrett stand. Seine Hoffnungen, dass Matthildur irgendwann einmal gefunden werden würde, konnte er begraben.
»Verdammt«, flüsterte er.
Der Orkan hatte sich inzwischen in einen Sturm abgeschwächt, der aber immer noch so heftig um das Haus tobte, dass es im Gebälk heulte und knarrte. Die nackte Birne, die von der Decke herunterhing, schaukelte hin und her.
»Verdammt«, flüsterte Ezra wieder. »Ich hätte dich selber umbringen sollen.«
Er beschloss, nach Hause zu gehen, da er sich nicht zu einer Leichenwache verpflichtet fühlte; den einen Mann kannte er überhaupt nicht, und den anderen hasste er mehr, als Worte zum Ausdruck bringen konnten.
– – –
Als er am nächsten Morgen wieder zur Arbeit erschien, sah er, dass Jakob nicht mehr auf dem Filetierbrett lag, er war auf den Fußboden gefallen. Ezra erschrak heftig, ging sofort zu ihm, nahm ihn hoch und hievte ihn unter großen Mühen wieder auf den Tisch. Es war ihm vollkommen unbegreiflich, wieso er heruntergefallen war. Als er Jakob hinlegte, prallte der Kopf unsanft auf das Brett, und Ezra kam es vor, als käme ein leises Stöhnen von der Leiche. Er sah nach der Leiche des anderen, griff nach einem Bein und versuchte, es zu bewegen, aber es war vollkommen steif, die Totenstarre war am ganzen Körper eingetreten. Jakob hätte, soweit er wusste, ebenso steif sein müssen, aber das war er keineswegs. Er war zwar sehr kalt, aber von Starre konnte keine Rede sein.
Wieder kam es ihm so vor, als würde Jakob ein Stöhnen von sich geben. Er erschrak, glaubte dann aber, dass es der Wind gewesen sein müsse. Draußen war es immer noch sehr stürmisch. Er beugte sich über Jakob, konnte aber keine Atemzüge wahrnehmen. Er spürte auch keinen Herzschlag, als er ihm das Ohr auf die Brust legte.
Ezra richtete sich wieder auf und starrte die Leiche an.
Ihm kam es so vor, als würden sich die Gesichtsmuskeln bewegen. Er sah Jakob unverwandt an. Ein Auge war wegen eines Blutgerinnsels nicht zu sehen. Das Haar war blutverklebt. Jakob hatte eine offene Wunde an der Schläfe und einen tiefen Schnitt am Kinn. Ezra nahm an, dass diese Wunden von seinem Aufprall gegen die Felsen herrührten.
Er musste sich die Bewegung der Gesichtsmuskulatur eingebildet haben. Aber er war sich nicht sicher.
In dem Moment, als Ezra sich abwenden wollte, sah er wieder diese Bewegung, es war wie ein Zucken um die Mundwinkel herum. Jetzt konnte es sich nicht mehr um eine Täuschung handeln. Er starrte Jakob ins Gesicht und sah deutlich, dass er die Lippen bewegte.
Und er sah auch ganz genau, dass Jakob atmete.
Die Tür zum Eishaus öffnete sich.
Ezras Herz setzte einen Schlag aus. Er war wie gelähmt vor Angst.
Der Besitzer der Sigurlína war hereingekommen und starrte Ezra an.
»Verflucht und zugenäht«, sagte er und stampfte mit den Füßen auf, um sich den Schnee von den Gummistiefeln abzutreten.
Achtundvierzig
Ezra erhob sich aus seinem Korbsessel in der Küche. Die Erinnerungen waren zu viel für ihn. Er konnte nicht still sitzen und ging unruhig auf und ab. Erlendur hatte ihm zugehört und gesehen, wie es ihm immer schwerer fiel, die damaligen Vorfälle in allen Einzelheiten zu schildern. Die Schweigepausen wurden länger, die Stimme immer leiser. Er rieb seine Hände und vermied es, Erlendur anzusehen. All diese Dinge lagen schon so lange zurück, und dennoch konnte man den Eindruck gewinnen, als seien sie erst gestern geschehen. Erlendur fühlte mit ihm wie mit allen, die einem unseligen Schicksal hilflos ausgeliefert waren.
»Soll ich dir einen Kaffee kochen?«, fragte er und stand ebenfalls auf. »Ich glaube, du kannst einen gebrauchen.«
Ezra war wie in einer anderen Welt. Erlendur musste seine Frage zweimal wiederholen, bevor sie zu Ezra durchdrang. Dann endlich blieb er stehen und sah Erlendur an.
»Was hast du gesagt?«, fragte er.
»Kaffee«, sagte Erlendur. »Soll ich uns nicht einen kochen?«
»Ja, mach das«, sagte Ezra. »Tu das. Mach uns einen Kaffee.«
Und dann kehrte er zurück in seine eigene Gedankenwelt, in der klirrende Kälte und Winterstürme herrschten. Erlendur hatte nicht vor, ihn unter Druck zu setzen, er wusste, dass er seine Geschichte langsam, aber sicher zu Ende bringen würde. Er konnte auch immer besser verstehen, weshalb es so schwierig für Ezra war, über die Vergangenheit zu sprechen. Das hatte er noch
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