Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
wurde. Er rauchte einige Zigaretten und hatte die Scheibe an der Fahrerseite einen Spalt geöffnet, damit der Rauch abziehen konnte. Ezras Trockenfisch lag auf dem Beifahrersitz, aber er verspürte keinen Appetit darauf. Er war zum Meer hinuntergefahren und hatte zugesehen, wie der Tag in nächtliche Dämmerung hinüberglitt. Er beobachtete ein riesiges Transportschiff, das in den Reyðarfjörður einfuhr, und dachte darüber nach, welch gewaltige Veränderungen die Schwerindustrie für das Leben der Menschen hier mit sich brachte. Überall schossen Häuser und Geschäfte aus dem Boden, neue Straßen entstanden, der ersehnte Aufschwung war da. Er hatte mit Bewohnern des Orts gesprochen, die eine völlig andere Einstellung als Bóas und Hrund hatten, sie waren überaus zufrieden mit dieser Entwicklung – Verkäufer, Hafenarbeiter oder die Jungs an der Tankstelle, alle Nachfahren von Menschen, die seit Generationen in den Ostfjorden gelebt hatten. Vor ihren Augen verwandelte sich plötzlich alles so rasant, dass man kaum folgen konnte. Hier ging doch alles den Bach hinunter, sagten sie, jetzt brechen neue, bessere Zeiten an. Neue auf jeden Fall, hatte er geantwortet.
Dann musste er wieder an Matthildur denken und an die britischen Soldaten, die in derselben Nacht in denselben Bergen um ihr Leben gekämpft hatten. In der Irrlichtscharte, die unpassierbar geworden war. Dort hatte ihr Ausflug in die Berge eine ganz andere Wendung genommen als erwartet, dort waren Soldaten in ihren Tod gegangen. Sie kannten Island nicht, sie kannten sich nicht mit dem Wetter aus. Statt umzukehren, stiegen sie weiter hinauf, sie wollten nicht kapitulieren vor diesem unbekannten Land, wohin der Krieg sie verschlagen hatte. Doch dann hatten sie sich noch vor Tagesanbruch geschlagen geben müssen.
Matthildur hatte sich besser ausgekannt, doch auch sie hätte sich besser nie auf den Weg gemacht. Es gab viele Berichte über Menschen, die sich weigerten, den Tatsachen ins Auge zu sehen, und sich wider alle Vernunft und trotz der warnenden Ratschläge anderer nicht von einer Reise abhalten ließen. War das auch die Geschichte von Matthildur gewesen? Häufig genug sah es zu Beginn einer solchen Unternehmung nicht so aus, als sei Gefahr im Verzug, meist waren Wetter und Schneeverhältnisse gut und die Tagesetappe angemessen oder sogar relativ kurz. Vertrauensvoll zogen diese Menschen los. Und mitten auf der Strecke begegnete ihnen der Tod. Vielleicht war das tatsächlich Matthildurs Geschichte gewesen.
Nach dem, was Ezra gesagt hatte, war sie in guter körperlicher Verfassung gewesen, hatte sich gut auf diese Wanderung vorbereitet und hatte genug Proviant dabei, um unterwegs mindestens ein Mal Rast machen zu können. Sie hatte sich morgens früh von ihrem Mann verabschiedet und war unerschrocken aufgestiegen. Zur gleichen Zeit traten die britischen Soldaten jenseits der Berge ihren Marsch an. Vermutlich hatten sie sich erkundigt und erfahren, dass der kürzeste Weg durch die Irrlichtscharte führte. Doch dann brach das Unwetter mit Windstärken über sie herein, die sie nie zuvor erlebt hatten. Die Soldaten verloren einander aus den Augen, und danach kämpfte jeder allein ums Überleben. Matthildur hatte sich wohl in derselben Lage befunden, und möglicherweise hatte sie sich entschlossen, umzukehren, doch dazu musste sie zurück über den Fluss, und der hatte sie dann vermutlich mit ins Meer gerissen. Das war vielleicht der Grund dafür, dass ihre Leiche nie gefunden worden war.
Es konnte aber auch sein, dass sie sich nie auf den Weg über die Berge gemacht hatte.
Diese Idee war sicher nicht neu. Sowohl Bóas als auch Hrund hatten etwas in der Art angedeutet, auch wenn sie sich dabei nur auf Gerüchte berufen konnten. Aber sie waren mit ihren Andeutungen nicht auf taube Ohren gestoßen. Erlendur vertrat seit Langem die Theorie, dass sich hinter solchen Geschichten über tragische Unfälle in den Bergen vermutlich das ein oder andere Verbrechen verbarg. Vor einigen Jahren war er mit einem Leichenfund in Grafarholt befasst gewesen, als dieses neue Viertel am Rande von Reykjavík entstand. Ein Ehemann und Vater war ermordet und ganz in der Nähe des Hauses vergraben worden. Seine Ehefrau, die jahrelang seine Gewalttätigkeit hatte erdulden müssen, behauptete, er sei bei einem Unwetter verschollen, er hätte zu Fuß über die Berge nach Selfoss gehen wollen, und sie hatte angeblich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Seinerzeit hatte keine
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