Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
Fäden zwischen Mensch und Natur knüpften. Damals lebten die Menschen in viel größerer Nähe zur Natur, ihre ganze Existenz hing von ihr ab. Die Ehrfurcht vor dem Land und den Mächten und Kräften, die ihm innewohnen, durchzieht viele Volkssagen wie ein roter Faden. Wegen dieser Ehrfurcht nahmen die Menschen auch die Warnungen ernst, die Naturmächte niemals zu unterschätzen. Und davon handelten vielfach auch die Schilderungen und Berichte über Menschen in Bergnot und ihre tragischen Schicksale. Erlendur las sie immer wieder, viele konnte er auswendig.
»Wie fandest du es, wenn die Leute so über Jakob redeten?«
»Ich kümmere mich nicht um das Gerede der Leute.«
»Seid ihr zusammen aufgewachsen?«
»Nein, ich stamme nicht von hier. Er übrigens auch nicht. Wir waren etwa gleich alt, er war nur zwei Jahre älter als ich. Und er kam aus Reykjavík, aber darüber hat er nicht viel gesprochen.«
Sie schwiegen.
»Ist das genug Fisch für dich?«, fragte Ezra nach einer Weile, während er die Katze streichelte, die plötzlich hochschreckte. Sie sprang mit einem Satz von seinem Schoß und schoss so blitzartig aus der Küche, dass Erlendur überzeugt war, sie müsse eine Maus gesehen haben.
»Ja, vielen Dank, das reicht mir«, sagte Erlendur und stand auf. »Ich habe dich wahrscheinlich viel zu lange aufgehalten.«
»Das ist schon in Ordnung«, entgegnete Ezra.
»Da gab es doch auch dieses Gerücht, dass sie sich mit einem britischen Soldaten eingelassen hat und mit ihm außer Landes gegangen ist?«
»Ja, ich weiß, aber das ist alles blanker Unsinn. Matthildur war kein Soldatenflittchen, das ist völlig ausgeschlossen.«
Erlendur war bereits auf dem Weg nach draußen, als sein Blick auf einen kleinen Gegenstand fiel, der zwischen allen möglichen anderen Dingen auf dem Kühlschrank neben der Tür lag. Er starrte eine ganze Weile darauf, dann trat er einen Schritt näher und sah es sich genauer an. Es war einmal ein kleines Spielzeugauto gewesen, das gut in eine Kinderhand hineinpasste, inzwischen war die Farbe abgeblättert, die Räder fehlten, das kleine Chassis auch. Auf dem Kühlschrank stand nur die leere Karosserie.
»Wo hast du das her?«, fragte Erlendur und starrte wie gebannt auf das Spielzeug.
»Ich hab’s gefunden«, sagte Ezra.
»Wo?«
»Warte mal, das war, glaube ich, bei einem Fuchsbau. Wahrscheinlich da oben am Harðskafi.«
»Am Harðskafi?«
»Ja, ich meine schon. Es ist schon ewig her, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Es liegt seitdem hier herum, ich wollte es nicht wegwerfen. Warum, weiß ich nicht. Ich fand es komisch, so etwas bei einem Fuchsbau zu finden.«
»Weißt du noch so ungefähr, wann das gewesen sein könnte?«
»Mein Gott, das ist so lange her«, entgegnete Ezra. »Vielleicht irgendwann um 1980, ich kann mich nicht genau erinnern. Ich habe wahrscheinlich da oben Füchsen aufgelauert, damals wurde man dafür noch anständig bezahlt. Jetzt lacht sich der Fuchs ins Fäustchen.«
Erlendur starrte immer noch auf das Spielzeug.
»Darf ich es mir ansehen?«
»Ansehen?«, entgegnete Ezra. »Aber selbstverständlich. Das hier ist kein Museum.«
Erlendur nahm das Spielzeug in die Hand und betrachtete es von allen Seiten.
»Du kannst es auch gern behalten«, sagte Ezra, der bemerkt hatte, dass der Anblick eines solch unscheinbaren Gegenstands seinen Gast derart berührte. »Ich kann nichts damit anfangen. Und es ist ja auch ganz egal, ich sterbe sowieso bald.«
»Macht es dir wirklich nichts aus?«
»Bestimmt nicht, du darfst es gerne behalten.«
»Du hast wohl nicht noch etwas anderes bei diesem Fuchsbau gefunden?«, fragte Erlendur und ließ das Spielzeug in seiner Jackentasche verschwinden.
»Nichts, woran ich mich erinnern könnte.«
»Hast du eine Idee, wie es dort hingelangt sein könnte?«
»Entweder hat der Fuchs es irgendwo aufgesammelt, oder ein Vogel hat es sich geschnappt und bei dem Bau fallen lassen. Möglicherweise war da aber auch jemand unterwegs, der es verloren hat. Das ist wirklich schwer zu sagen.«
»Und es war am Harðskafi?«
»Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Ich danke dir«, sagte Erlendur, der aus dem Gleichgewicht geraten war. Er verließ das Haus wie in Trance, setzte sich ins Auto und fuhr los. Im Rückspiegel sah er, dass Ezra vor die Tür getreten war und ihm nachblickte. Er dachte an Bóas’ Worte: In Fuchsbauen kann man die unglaublichsten Dinge finden.
Neun
Erlendur blieb in seinem Wagen sitzen, bis es dunkel
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