Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
depressiven Phasen verlässt der Vater das Schlafzimmer gar nicht. Dann darf kein Lärm im Haus gemacht werden. Mitten im tiefsten und dunkelsten Winter, um Weihnachten herum und nach der Jahreswende, wird sein Zustand besonders schlimm. Dann hat es fast den Anschein, als würde die Sonne nie wieder aufgehen. Ein langer, finsterer Tag nach dem anderen vergeht, die Geige im Kasten wird nicht angerührt, dort bleibt sie mit all den fröhlichen und traurigen Melodien.
Sein Vater weiß, dass einer seiner Söhne gerettet wurde, doch das reicht nicht, um seine Isolation zu durchbrechen und seinen Seelenschmerz zu lindern. Niemand weiß besser als er, was für ein Unwetter da oben in den Bergen tobt, er hat selbst um sein Leben kämpfen müssen, und er wurde mehr tot als lebendig bei der Scheune gefunden. Er reagiert überhaupt nicht auf Erlendur, der gekommen ist, um Hilfe zu suchen. Der jüngere Sohn wurde immer noch nicht gefunden, er kann an nichts anderes denken, als dass er tot ist.
Erlendur steht bei seinem Vater und spürt dessen Apathie. Also stimmt wahrscheinlich, was er bereits befürchtete, dass er etwas falsch gemacht hat. Er vermeidet es, darüber nachzudenken, was das gewesen sein könnte, er will hören, dass er sich irrt, dass er nicht anders handeln konnte. Doch sein Vater schweigt wie ein Grab, er antwortet nicht, er sieht seinen Sohn nicht einmal an. Offenbar tröstet es ihn in dieser entsetzlichen Situation auch nicht, dass Erlendur lebend gefunden wurde. Das Schweigen ist unerträglich, fast noch schlimmer, als zerschunden und durchfroren oben in den Bergen zu liegen.
»Verzeih mir«, sagt er so leise, dass es kaum zu verstehen ist. »Ich wollte nicht … Ich hätte nicht …«
Sein Vater hebt den Kopf und sieht ihn an.
»Was hast du da?«
»Den hast du mir geschenkt, das ist der Zinnsoldat«, sagt er und öffnet seine Hand, um ihn dem Vater zu zeigen. »Beggi hat ein kleines Auto bekommen.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Du hast mir den Soldaten geschenkt und Beggi das kleine Auto.«
»Wirklich?«
»Er hatte das Auto bei sich, als er mit uns losgegangen ist. Er hatte es in seinem Handschuh.«
Elf
Er lag fast die ganze Nacht wach in seinem warmen Schlafsack auf dem verlassenen Hof, der Schlaf hatte sich nicht einstellen wollen. Seine Gedanken waren um die Ereignisse an dem Tag gekreist, als sie mit ihrem Vater in die Berge gingen. Hin und wieder war er doch eingeschlummert, aber immer nur kurz, damit war keine Entspannung verbunden. Steif und übernächtigt stand er auf. Er versuchte, sich an der Gaslampe zu wärmen, aß drei Haferkekse und goss sich Kaffee aus der Thermoskanne in einen Plastikbecher. Den Kaffee hatte er an einem Kiosk im Ort bekommen, wo ihn ein aufgeweckter, etwas aufdringlicher junger Mann um die zwanzig bedient hatte. Es war bereits spät am Abend gewesen, der junge Mann hätte Erlendur gern in ein Gespräch verwickelt, doch damit kam er bei Erlendur nicht an.
»Bist du wegen des Aluminiumwerks hier?«, fragte er, denn es war nicht zu übersehen, dass Erlendur ortsfremd war.
»Nein«, sagte Erlendur kurz angebunden. »Ich hätte gern drei Schachteln Viceroy.«
Der Junge in verschlissenen Jeans und verwaschenem T-Shirt zog eine Schublade auf und legte die Schachteln auf die Theke.
»Arbeitest du vielleicht da oben am Staudamm?«, fragte er.
»Nein. Kannst du mir Kaffee für die Thermoskanne verkaufen?«
»Du kannst sie da drüben auffüllen«, sagte der Junge und deutete in eine Ecke, in der sich ein ziemlich schmieriger Tisch befand, auf dem eine Kaffeemaschine mit einer halb vollen Kaffeekanne stand. »Der ist umsonst. Was machst du denn so beruflich?«
Erlendur füllte seine Thermosflasche und bezahlte die Zigaretten. Der junge Mann beobachtete ihn dabei, und Erlendur merkte, dass sich weitere Fragen zusammenbrauten. Deswegen ging er schnell zur Tür.
»Bist du der Typ da auf dem verlassenen …?«, hörte er den jungen Mann noch sagen, als er schon in der Tür stand.
»Einfaltspinsel«, murmelte Erlendur, als sie ins Schloss gefallen war.
Nach dem Frühstück fuhr er nach Egilsstaðir. Die Straße führte um den steil aufragenden Hólmatindur herum, und dann lag das im Bau befindliche Aluminiumwerk am Reyðarfjörður vor ihm. Die Arbeiten waren in vollem Gange, und er sah sich das eine Weile an. Dann führte ihn die Straße an der Fagradalsá entlang durch das Fagridalur, das schöne Tal, das seinem Namen alle Ehre machte. Er hatte keine Eile. Die
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