Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
wollte zu Fuß über die Berge und ist bei einem Unwetter ums Leben gekommen.«
»Ach so.«
Der Gymnasiast wandte sich ab und schlenderte die Straße entlang, seine Hose hing so weit herunter, dass die Unterhose zu sehen war. Was wird nur aus der Menschheit werden?, dachte Erlendur, während er dem Jungen nachschaute, bis er um die Ecke verschwunden war.
Er fuhr damit fort, Zeitungen und Broschüren aus der Kiste zu holen, und schließlich stieß er auf ein paar handgeschriebene Briefe, die er überflog. Einige waren von den Schwestern, andere von deren Mutter oder von Freundinnen. Den letzten Brief an ihre Schwester hatte Matthildur drei Monate vor ihrem Verschwinden geschrieben. Sie schrieb über Neuigkeiten aus der Gegend und ging ziemlich ausführlich auf das Wetter ein, der Herbst war stürmisch gewesen, und nun würde bald der Winter Einzug halten. Sie freute sich auf Weihnachten und hatte angefangen, sich ein Kleid für die Festtage zu nähen. Auch die früheren Briefe waren sehr allgemein gehalten und verrieten nichts über Matthildurs Beziehung zu ihrem Mann Jakob. Erlendur wusste, dass das nichts zu bedeuten haben musste. Man brachte nicht unbedingt alles, was einem durch den Kopf ging, zu Papier und schickte es durch die Gegend.
Ich war mit Ninna zum Tanzen , hieß es in einem Brief, den sie drei Jahre vor ihrem Tod geschrieben hatte. Wir haben uns gut amüsiert. Die Kapelle war von hier, sie haben alte und neue Schlager gespielt, und Ninna und ich haben fast die Sohlen durchgetanzt. Anfangs waren die Jungs viel zu schüchtern, um uns aufzufordern. Einer von ihnen hieß Jakob, und nach dem Tanzen haben wir lange miteinander geredet. Er lebt in Eskifjörður .
Erlendur durchsuchte die Kiste bis auf den Boden, fand aber nichts, was ihm mehr über Jakob und Matthildur verraten hätte. Daraufhin begann er, alles wieder zurückzulegen, und zwar so, dass man kaum sehen konnte, dass sich jemand den Inhalt angeschaut hatte. Schließlich warf er auch noch einen Blick in die alten Zeitungen und blätterte sie rasch durch. Wieso Matthildurs Schwester das Parteiblatt der Bauernpartei aufbewahrt hatte, war ihm nicht klar. Mitten zwischen Meldungen von erbitterten politischen Auseinandersetzungen und irgendwelchen Resolutionen des Bauernverbands standen Berichte über die Lammzeit oder die Heuernte. In einem Exemplar stieß er auf die Nachricht über das tragische Schicksal der Besatzungssoldaten in Reyðarfjörður, und eine kleine eingerahmte Zeitungsnotiz besagte, dass Matthildur in derselben Nacht verschwunden war.
In einer viel späteren Ausgabe stieß er auf einen Nachruf über Jakob, den ein Freund von ihm, der Pétur Alfreðsson hieß, geschrieben hatte. Er ging mit ein paar Sätzen auf seine Herkunft und Familie ein, die aus Reykjavík und aus dem Hornafjörður stammte. Dann wurden wie üblich seine menschlichen Qualitäten hervorgehoben, und anschließend wurde darauf eingegangen, dass Jakob seine junge Frau bei einem verhängnisvollen Unwetter verloren hatte. Danach hatte er nie wieder geheiratet, und er hatte keine Kinder. Zum Schluss hieß es, dass er selbst ebenfalls bei einem Unwetter ums Leben gekommen sei, er habe mit der Sigurlína Schiffbruch erlitten, man habe ihn und seinen Kameraden nur noch tot bergen können. Die Leichen waren bis zur Bestattung im alten Eishaus in Eskifjörður aufbewahrt worden.
Es war nicht der Inhalt dieses Nachrufs, der Erlendurs Interesse weckte, sondern das Wort, das jemand mit einem dicken Bleistift quer darüber geschrieben hatte. Es war immer noch gut leserlich.
scheusal.
Dreizehn
Hrund saß wie zuvor an ihrem Fenster und blickte in das Tal, wo die Strommasten errichtet wurden. Jenseits des Hauses wurde der Himmel vom Widerschein der Flutlichter an der Baustelle der Aluminiumhütte erhellt, die aber selbst nicht zu sehen war. Hrund sah Erlendur vorfahren und zur Haustür kommen, und diesmal stand sie auf und öffnete ihm die Tür. Sie ging mit ihm ins Wohnzimmer und setzte sich wieder ans Fenster.
»Zu dieser Tageszeit ist es hier so schön«, sagte sie. »Wenn es Abend wird.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Erlendur und ließ sich nieder. Hrund hatte noch kein Licht im Haus gemacht, sie saß in der Abenddämmerung am Fenster und hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt. Licht und Schatten von den Straßenlaternen vor dem Haus fielen auf die Wand hinter ihr, und Erlendur betrachtete dieses Schattenbild eine Weile. Hrund schien gar nicht
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