Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
ihn auf«, sagte Erlendur. »Du solltest vielleicht mit ihr sprechen. Ingunn behauptet, dass Jakob der Vater ist.«
»Und du hast den Brief gesehen?«
Erlendur nickte.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand anderes als Jakob infrage kam«, sagte Hrund. »Und dann hat er später unseligerweise Matthildur geheiratet. Es hat sich einfach so ergeben. So ist das im Leben, solche Dinge passieren.«
»Jakob muss deswegen kein schlechter Mensch gewesen sein«, sagte Erlendur. »Er hat Matthildur nicht betrogen. Die Beziehung zu Ingunn, wie auch immer sie gewesen sein mag, war vorbei, als er und Matthildur zusammenzogen. Jeder Mensch hat irgendeine Vorgeschichte.«
»Sicherlich.«
»Wenn Ingunns Vaterschaftsgeschichte nicht stimmte, hat sie vielleicht die Ehe aus anderen Gründen zerstören wollen.«
»Jakob hat sie nicht gut behandelt«, erklärte Hrund.
»Nein, darüber spricht Ingunn in diesem Brief.«
»Ich weiß nicht, was in dem Brief steht, aber er hat ihr wohl seinerzeit alles Mögliche angedroht, als sie ihm sagte, dass sie ein Kind erwartete, und wollte, dass er es anerkennt. Er drohte ihr auch Gewalt an, wer weiß, vielleicht ist es ja sogar dazu gekommen. Er drohte damit, es allen zu erzählen, dass sie eine … dass sie sich wie eine ordinäre Prostituierte aufgeführt hatte. Ich weiß, dass sie nie darüber sprechen wollte, aber Mama glaubte, dass er sie auch körperlich angegriffen hat.«
In der Tür erschien eine Krankenschwester und fragte, ob Hrund etwas bräuchte. Hrund schüttelte den Kopf. Die Krankenschwester nahm das leere Wasserglas vom Nachtschrank und sagte, sie würde frisches Wasser bringen.
»Drück einfach auf die Klingel, wenn dir etwas fehlt«, sagte sie freundlich lächelnd.
»Meine Mutter hat ihn zur Rede gestellt, als Matthildur nicht gefunden wurde«, fuhr Hrund fort, nachdem die Frau gegangen war. »Sie hat Jakob rundheraus gefragt, ob er ihr etwas angetan hatte, und sie hat ihn auch gefragt, ob er Ingunn geschlagen hätte. Jakob hat alles abgestritten und behauptete, weder Ingunn noch Matthildur angegriffen zu haben. Dagegen ließ sich nicht viel sagen.«
»Matthildur muss doch schockiert gewesen sein, als sie herausfand, dass ihr Neffe der Sohn ihres Mannes war.«
»Ich weiß nur, dass Ingunn mit diesem Brief die Ehe ihrer Schwester zerstört hat«, sagte Hrund. »Vielleicht war das ja ihre Absicht.«
»Was meinst du damit?«
Hrund gab ihm keine Antwort.
»Was ist vorgefallen?«
Hrund sah ihn lange an. Auf dem Flur ging jemand mit klackernden Clogs entlang, und von draußen hörte man das laute Dröhnen eines Lastwagens.
»Was hast du vorhin damit gemeint, als du gesagt hast, das sei die Erklärung für das, was vorgefallen ist?«, fragte Erlendur.
»Was meinst du?«
»Du hast gesagt, dass der Brief Einfluss darauf hatte, was später passierte. Hast du damit das Verschwinden von Matthildur gemeint?«
»Nein«, sagte Hrund. »Das war noch später … Matthildur hat sich Ezra zugewandt. Sie hatte eine Beziehung mit Jakobs Freund.«
»Mit Ezra?«
»Ja, Ezra. Sie haben sich heimlich getroffen. Hast du nicht mit ihm gesprochen?«
»Doch.«
»Hat er es dir gegenüber erwähnt?«
»Nein.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Hrund. »Er hat zu niemandem darüber gesprochen. Hat all diese Jahre geschwiegen und wird es wohl mit ins Grab nehmen.«
Zweiundzwanzig
Erlendur saß eine Weile stumm neben dem Bett und dachte über Hrunds Worte nach. Wieder klackerten die Clogs draußen auf dem Flur, doch das Dröhnen des Lastwagens draußen entfernte sich und wurde schwächer. Hrund strich über die weiße Bettdecke. Erlendur bemerkte, dass jemand ihr ein Buch mit braunem, abgenutztem Rücken gebracht hatte. Soweit er sehen konnte, hieß es: Mensch und Erde .
»Du möchtest bestimmt mehr wissen«, sagte Hrund nach langer Pause.
»Du bestimmst, wie es weitergeht«, sagte Erlendur. »So hast du es bislang ja auch gemacht.«
Soweit Hrund wusste, kannten Matthildur und Ezra sich schon, bevor der Brief von Ingunn eintraf. Ezra fuhr öfter mit Jakob zum Fischen, und sie hatten ein ganz gutes Verhältnis zueinander. Sie hatten sich einige Jahre zuvor in Djúpivogur kennengelernt, Hrund wusste nicht, unter welchen Umständen, denn beide wohnten schon vor dem Krieg in Eskifjörður. Ezra war unverheiratet, und Hrund war nichts darüber bekannt, dass er jemals eine Beziehung zu einer Frau gehabt hatte. Diesbezüglich schien Jakob über erheblich mehr Erfahrung zu
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