Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
einem Hof in Familienbesitz, der, soweit Erlendur verstand, Strókahlíð hieß. Er regte sich über den ganzen Zirkus um den Staudamm und das Aluminiumwerk auf, und als er in diesem Zusammenhang anfing, irgendeine Geschichte über seinen Bruder zu erzählen, stand Erlendur auf und wünschte ihm eine gute Nacht.
Am nächsten Morgen ging er zurück ins Krankenhaus und besuchte Hrund, die in der Nacht gut geschlafen hatte und sich wesentlich besser fühlte als am Abend zuvor. Sie saß halb aufrecht im Bett. Das Bein mit der Verletzung war sorgfältig bandagiert.
»Die Medikamente tun ihre Wirkung«, sagte sie, als Erlendur sich zu ihr setzte. »Danke, dass du mir zu Hilfe gekommen bist. Ich Dummkopf hätte es eigentlich wissen und Maßnahmen ergreifen müssen. Ich bin wohl in der Küche ohnmächtig geworden. Ich kann mich kaum erinnern, was eigentlich passiert ist.«
»Es sah gar nicht gut aus«, sagte Erlendur.
»Du hättest mich aber nicht begleiten müssen.«
»Das war doch selbstverständlich.«
»Ich erinnere mich an einiges, worüber wir gestern Abend gesprochen haben, aber vielleicht nicht an alles.«
»Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du den Verdacht, dass es andere Erklärungen für den Tod von Matthildur geben könnte als das, was Jakob seinerzeit behauptete.«
»Ja, das ist meiner Ansicht nach sehr gut möglich. Ich weiß, es ist schrecklich, so zu denken, aber ich habe dieses Gefühl schon seit Langem. Ich fand es immer merkwürdig, dass sie nie gefunden wurde. Die Engländer wurden alle gefunden, obwohl einige ziemlich weit vom Weg abgekommen waren. Ich war immer der Meinung, dass man sie auch hätte finden müssen.«
»Einer der Engländer wurde von der Eskifjarðará mit ins Meer gerissen.«
»Das hat mir natürlich auch zu denken gegeben. Vielleicht hat sie denselben Weg genommen und wurde nur weiter hinausgespült. Vielleicht ist sie ja in diesem Unwetter umgekommen.«
»Ich habe gestern lange mit Ninna gesprochen, und sie hat erwähnt, dass seinerzeit auch Vermutungen über einen Selbstmord angestellt wurden. Daran hast du nie gedacht?«
»Doch, aber das Problem bleibt. Weshalb wurde sie nicht gefunden? Darauf hat bisher niemand eine Antwort geben können. Und ich bezweifle im Grunde genommen, dass nach all den Jahren noch jemand eine Antwort finden kann.«
»Du hast keinen Kontakt zu deinem Neffen Kjartan in Egilsstaðir?«
»Nein. Er ist zwar der Sohn meiner Schwester, aber wir hatten nie wirklich Kontakt zueinander. Wir wissen voneinander, viel mehr nicht. Er ist natürlich nicht hier aufgewachsen, sondern erst als junger Mann hierhergezogen, und er hat immer sehr zurückgezogen gelebt. Ich habe auch keine Verbindungen zu Ingunns anderen Kindern. Soweit ich weiß, leben sie alle in Reykjavík.«
»Weshalb hast du mir nicht von Ingunn und Jakob erzählt?«
Hrund antwortete nicht gleich.
»Weshalb hätte ich das tun sollen?«, fragte sie schließlich.
»Ich dachte …«
»Ich kannte dich überhaupt nicht. Dann hast du mir gesagt, dass du bei der Polizei bist, und da fing ich an, das Ganze in einem neuen Licht zu sehen. Aber ich war unschlüssig und bin überflüssigerweise wütend geworden, als du wieder auftauchtest. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich so schäbig behandelt habe.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen, ich bin hier nur zu Gast«, sagte er.
»Du kannst bestimmt verstehen, dass es schwierig für mich ist, darüber zu reden.«
Erlendur nickte.
»Du kennst die Geschichte von Ingunn und Jakob also gut?«, fragte er.
»Erst als ich älter wurde, habe ich verstanden, was sich da abgespielt hat«, sagte Hrund. »Unsere Mutter wollte am liebsten nicht darüber sprechen, sie hat es mir erst sehr viel später erzählt, und zwar halbwegs im Flüsterton. Da waren sowohl Matthildur als auch Jakob schon tot. Der Brief von Ingunn, in dem sie alles erklärte, hat Matthildur tief getroffen. Angeblich war das die Erklärung dafür, was später passiert ist.«
»Meinst du, dass sie vorhatte, Jakob zu verlassen?«
»Ich halte es nicht für ausgeschlossen.«
»Besteht die Möglichkeit, dass Ingunn in dem Brief die Unwahrheit gesagt hat?«
»Weshalb hätte sie das tun sollen?«
»Vielleicht, weil nicht Jakob der Vater war, sondern jemand anderes, den sie getroffen hat, ohne jemandem etwas davon zu erzählen.«
»Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Ich habe diesen Brief allerdings nie gesehen, ich weiß nicht, wo er hingekommen ist.«
»Ninna bewahrt
Weitere Kostenlose Bücher