Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
ganze Weile dort herumgedrückt, bis er drinnen ein Geräusch gehört hatte. Dann hatte er leise angeklopft. Eine spärlich gekleidete Matthildur öffnete die Tür und lächelte ihn an. Sie wechselten nur ein paar Worte.
»Ich habe gestern Abend ein bisschen Verpflegung für dich zurechtgemacht«, sagte Matthildur dann und reichte ihm ein Päckchen. »Ich finde es so lieb von dir, dass du morgens immer nach mir schaust.«
Er nahm das Päckchen verblüfft entgegen.
»Das wär doch nicht nötig gewesen«, sagte er.
»Ach, das ist doch bloß eine Kleinigkeit«, erwiderte sie und lächelte unwillkürlich, weil er so verwundert war.
»Ganz herzlichen Dank«, sagte er und steckte den Proviant in seine Tasche. »Ist Jakob nicht morgen wieder da?«, fragte er.
»Ja, er wollte heute Abend zurückkommen«, sagte Matthildur, »und morgen wieder mit dir ausfahren.«
Auch am vierten Tag ging er wieder an Matthildurs Haus vorbei. Von Jakob hatte er nichts gehört, ging aber davon aus, dass er am Abend zuvor heimgekehrt war. Deswegen klopfte er in der gewohnten Weise an, wenn er Jakob abholte. Er blickte hinunter zum Kai und hoffte, dass der Nebel, der über dem Fjord lag, sich im Lauf des Morgens lichten würde. Die Tür ging auf, Matthildur erschien, und er sah sofort, dass irgendetwas passiert war. Sie hatte geweint.
»Was ist los?«, fragte er. »Ist etwas vorgefallen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ist Jakob etwas zugestoßen? Ist er bei dir?«
»Nein«, sagte sie. »Er ist nicht bei mir, und ich habe keine Ahnung, wo er ist.«
»Wollte er nicht schon gestern Abend zurück sein?«
»Doch, aber er ist nicht gekommen, und ich habe keine Ahnung, wann er wiederkommt.«
Sie war erregt, ging in die Küche und holte einen Brief, den sie ihm vor das Gesicht hielt.
»Hast du das gewusst?«, fragte sie.
»Was?«
»Was für ein Mensch er ist?!«, fauchte sie und schlug die Tür zu.
Ezra stand auf dem Treppenabsatz und wusste nicht, wie ihm widerfuhr. Er zögerte eine Weile, unsicher, ob er noch einmal klopfen sollte. Die Arbeit wartete auf ihn, er durfte sich nicht zu lange hier aufhalten. Und bald würden auch die Leute in den umliegenden Häusern wach werden. Er trat ein paar Mal von einem Fuß auf den anderen und stapfte dann die Böschung hinunter. Unterwegs hielt er einige Male inne und blickte zurück zum Haus, doch die Tür öffnete sich nicht wieder, und nichts geschah. Er hatte Matthildur noch nie so erregt gesehen, und es bedrückte ihn, dass sie ganz allein war.
Als Ezra abends vom Fischen zurückkehrte, blickte er wieder zum Haus, das jetzt dunkel und verlassen wirkte. Tief in Gedanken ging er nach Hause und öffnete die Tür, die wie bei allen anderen Häusern am Ort immer unverschlossen war. Er stellte seinen Seesack ab und erschrak, als er im Dämmerlicht sah, dass Matthildur allein an seinem Küchentisch saß. Er streckte seine Hand nach dem Lichtschalter aus.
»Würde es dir etwas ausmachen, kein Licht zu machen?«, fragte sie.
»Nein, das ist in Ordnung.«
»Entschuldige, wie ich mich heute Morgen benommen habe«, sagte sie. »Es hat mir den ganzen Tag zu schaffen gemacht.«
»Deswegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagte er und blickte sich forschend um, ob Jakob bei ihr war. »Hoffentlich fühlst du dich inzwischen etwas besser.«
»Es geht mir besser«, sagte sie.
»Bist du allein?«
»Ja, ich bin allein. Ich hatte einfach das Bedürfnis, mit dir zu sprechen. Darf ich das?«
»Natürlich«, sagte Ezra. »Selbstverständlich. Bist du hungrig? Möchtest du einen Kaffee?«
»Nein, vielen Dank«, sagte sie. »Bloß keine Umstände meinetwegen. Deswegen bin ich nicht gekommen.«
»Weswegen bist du gekommen?«
Matthildur antwortete nicht gleich auf diese Frage. Er setzte sich zu ihr an den Tisch. Er freute sich, dass sie bei ihm war, dass sie in seinem Haus auf ihn gewartet hatte, auch wenn er keine Ahnung hatte, weshalb sie das Bedürfnis dazu verspürt hatte.
»Ist Jakob wieder zurück?«, fragte er.
»Ja, er ist heute gekommen.«
»Und er ist nicht bei dir?«
»Mach dir keine Sorgen, niemand hat mich kommen sehen«, sagte Matthildur. »Und im Grunde genommen ist es mir auch egal, wenn es jemand gesehen hat. Es ist mir völlig egal.«
»Was … Was ist denn los, Matthildur?«, fragte er. »Was war heute Morgen los?«
»Ich habe gestern einen Brief von meiner Schwester Ingunn bekommen«, erklärte Matthildur und holte den Brief aus ihrer Tasche. »Sie ist nach Reykjavík
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