Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
verfügen.
Ezra war ein Einzelgänger und hatte nur wenig Kontakt zu anderen Menschen. So war es damals gewesen, und so war es immer noch. Man wusste im Grunde genommen herzlich wenig über ihn, nur dass er aus dem westlichen Landesteil stammte. Bevor er Jakob in Djúpivogur kennenlernte, hatte er in Stykkishólmur und Borgarnes gelebt. Niemandem wäre es eingefallen, ihn genauer danach zu fragen. Das Seemannsleben verschlug ihn in die Ostfjorde, wo er sich niederließ und vor allem im Fischfang arbeitete.
Er war zwar ein Einzelgänger, der kaum über sich selbst sprach und seine Gefühle für sich behielt, sich so wenig wie möglich unter die Leute mischte, aber er war nicht schlecht angesehen. Er war tüchtig und hilfsbereit, wenn man sich an ihn wandte, und er führte in jeder Hinsicht ein ordentliches und maßvolles Leben. Er war kräftig gebaut, doch mit seiner niedrigen Stirn und den kleinen Augen konnte er nicht als schöner Mann gelten. Sein Gesicht war schon früh von Falten zerfurcht, und er hatte eine entstellende Narbe an der Unterlippe, von der man munkelte, er habe sie sich bei einer Schlägerei zugezogen. Nie wurde er danach gefragt. Irgendjemand hatte mal die Bemerkung fallen lassen, sein Gesicht sehe aus wie ein Türvorleger, den jemand in die Ecke getreten hatte. Vielleicht war das einer der Gründe, weswegen er so scheu und zurückhaltend gegenüber dem anderen Geschlecht war.
Bis er Matthildur traf.
Ihre Bekanntschaft begann, als Jakob und Matthildur ein Paar geworden waren. Ezra war wohl auf seine zurückhaltende Weise schon vorher auf sie aufmerksam geworden, aber er lernte sie erst kennen, als er und Jakob auf einem Dreitonner zum Fischen hinausfuhren, zu zweit oder zu dritt, wenn der Besitzer des Bootes mitfuhr, dem auch die Fischverarbeitung am Ort gehörte. Sigurlína hieß das Boot nach der Ehefrau des Besitzers. Sie liefen immer frühmorgens aus und kehrten am Spätnachmittag oder gegen Abend zurück. Wenn der Besitzer anderes zu erledigen hatte, waren die beiden allein an Bord. Ezra war meist schon vor Tau und Tag auf den Beinen. Er holte Jakob dann zu Hause ab, und sie gingen zusammen hinunter zum Kai. Matthildur war meist auch schon auf, und sie wechselten ein paar Worte miteinander, während Jakob sich anzog. Dann machten sie sich auf den Weg, und Matthildur stand auf der Schwelle und blickte ihnen zum Abschied nach. Jakob sah sich nie nach ihr um, doch Ezra warf manchmal unauffällig einen Blick über die Schulter zurück. Das Bild von Matthildur in der Tür begleitete ihn aufs Meer.
Irgendwann einmal, als sie gerade wieder einliefen, erklärte Jakob, er müsse für ein paar Tage nach Djúpivogur, um dort etwas zu erledigen. Er äußerte sich nicht darüber, was er vorhatte. Er sagte Ezra nur, dass er in den nächsten Tagen allein mit dem Bootsbesitzer ausfahren müsse. Wie immer wachte Ezra am nächsten Morgen früh auf, und als er an Jakobs Haus vorbeiging, sah er, dass Matthildur auch schon auf den Beinen war. Jakob hatte sich sehr früh auf den Weg gemacht, und sie war aufgestanden, um sich von ihm zu verabschieden, hatte dann aber nicht wieder einschlafen können. Die Tür stand auf, und wie gewohnt wechselten sie ein paar Worte.
Auch am nächsten Tag nahm Ezra den gleichen Weg an Jakobs und Matthildurs Haus vorbei. Die Haustür stand offen, so als würde sie auf ihn warten. Sie kam hinaus und begrüßte ihn, sie unterhielten sich und er verweilte ein wenig länger als sonst. Matthildur wusste genauso wenig wie Ezra, was Jakob in Djúpivogur zu erledigen hatte. Er hatte manchmal davon gesprochen, einen Anteil an einem Boot kaufen zu wollen, vielleicht ginge es um so etwas. Ezra nickte zustimmend, denn Jakob hatte auch ihm gegenüber einmal erwähnt, ob sie nicht zusammen einen solchen Anteil kaufen sollten. Darauf war Ezra nie eingegangen, denn er hatte keinerlei finanzielle Rücklagen. Mensch, wir können doch einen Kredit aufnehmen, hatte Jakob gesagt. Was glaubst du wohl, wer Leuten wie uns etwas leihen würde?, hatte Ezra geantwortet.
Matthildur stand immer noch an der Tür, und Ezra fragte sie, ob er ihr vielleicht irgendetwas mitbringen könne, doch Matthildur brauchte nichts.
»Aber danke für das Angebot«, sagte sie.
Am dritten Morgen hielt er sich noch etwas länger bei ihr auf, sodass der Bootsbesitzer schon wütend war, als er endlich am Kai erschien und sie auslaufen konnten. Matthildur war noch nicht wach gewesen, als er zum Haus kam, und er hatte sich eine
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