Eisige Naehe
Mann mit vielen Gesichtern, er konnte austeilen und beleidigen, bis andere am Boden lagen, aber sobald jemand etwas gegen ihn sagte, schoss er umso heftiger zurück, denn seine Zunge war die schärfste Klinge im Showbusiness, für ihn hatte es nie ein Tabu gegeben. Er hatte schon mehrere Prozesse geführt, und er hatte sie alle gewonnen. Er verfügte über das nötige Geld und damit auch über einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Und er hatte Macht. Doch all das nutzte ihm nun nichts mehr. In nicht allzu ferner Zukunft würde kaum noch jemand über ihn sprechen. Und wenn, dann würden die Berichte vermutlich eher nüchtern gehalten sein und womöglich den wahren Peter Bruhns zeigen, so wie man ihn zu Lebzeiten nie gezeigt hatte.
Für einen Augenblick zeichnete sich auf Hennings Lippen angesichts des grotesken Anblicks ein leichtes zynisches Lächeln ab. Er hatte schon viele Tote gesehen, aber noch nie eine derartige Aufbahrung. Irgendjemand hatte offenbar großen Wert darauf gelegt, Bruhns nach seinem Ableben so zu zeigen, wie er gelebt hatte, dekadent, sexsüchtig, mit einer jungen Frau. Das Grinsen auf den schmalen Lippen wie eingemeißelt. Aber was war das Motiv für diesen Doppelmord? Rache? Hass? Demütigung? Was immer es auch gewesen sein mochte, der Täter musste einen Grund gehabt haben, seine Opfer so zur Schau zu stellen.
Henning ließ den Blick langsam durch das Zimmer schweifen, als wollte er jedes noch so kleine Detail in sich aufsaugen und wie auf einer Festplatte speichern. Für einen Moment stand er an dem riesigen, langgestreckten Fenster mit der freien Sicht auf die Ostsee, die, getrieben von dem böigen, aus den Tiefen Skandinaviens kommenden Wind, Schaumkronen ans Ufer spülte. Herrenlose Boote schaukelten auf den Wellen. Der Himmel hatte aufgeklart, und die Sonne kämpfte gegen die Kälte, aber der Nordwind war zu stark. Doch es konnte nicht mehr allzu lange dauern, bis der Frühling sich durchsetzen würde.
Henning drehte sich wieder um. Sowohl Bruhns als auch die junge Frau waren durch einen Schuss in den Kopf getötet worden. Die Kleidung der Frau lag in dem großzügig geschnittenen Wohnbereich verstreut. Auf dem schweren, ovalen Glastisch standen zwei fast leere Weingläser, die dazugehörige Flasche lag auf dem Boden, ein Teil des roten Inhalts hatte sich über den Teppich verteilt, nur noch ein winziger Rest befand sich in der Flasche. Der Wohnraum war gut fünfzig Quadratmeter groß, dezent mit hellen, freundlichen Farben eingerichtet. Allein das, was er sah, musste ein halbes Vermögen wert sein, die Skulpturen über dem Kamin, die Bilder, die schneeweiße Ledergarnitur von einem der renommiertesten Designer. Ein riesiges Bücherregal zog sich über eine ganze Wand, in der Mitte stand der Brockhaus in exakt jenem weißen Leder wie die Couchgarnitur, der dekadente Luxus der Oberschicht. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass die Bücher nie angefasst, geschweige denn gelesen wurden.
»Mann, muss der Kohle gehabt haben«, sagte Henning leise.
»Das weiß doch jeder«, war die Antwort. Nach einem weiteren kurzen Rundblick sah Henning Santos an, was sie jedoch nicht bemerkte oder bemerken wollte, sie war zu sehr in Gedanken versunken. Sie befanden sich an einem Tatort, der einzigartig war. Sie schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Henning holte sein Handy aus der Tasche und machte ein paar Bilder der Toten. Die von der Kriminaltechnik gemachten Fotos würden später auf seinem Schreibtisch landen und aussagekräftiger sein, dennoch war dieser allererste Eindruck der wichtigste. Das Gesamtbild zählte, und er versuchte, sich jedes noch so kleine Detail nicht nur zu merken, sondern zu verinnerlichen. Er sog den Geruch auf, nicht unangenehm, nicht der Geruch des Todes, sondern eher wie Blumen, der erste Hauch von Frühling, obwohl im ganzen Raum keine einzige Blume stand, nur geruchlose Grünpflanzen. Die Temperatur war behaglich, vielleicht ein wenig zu hoch, Henning schätzte dreiundzwanzig, vierundzwanzig Grad. Es würde nachher, wenn der Rechtsmediziner Professor Jürgens die Leichen untersuchte, von Bedeutung sein, denn nur so konnte er bereits vor Ort den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen.
Henning betrachtete nun eingehend die Toten, ging langsam um die Couch herum und machte weitere Fotos. Er hätte die beiden gerne angefasst, um herauszufinden, ob die Totenstarre bereits vollständig ausgebildet war. Allerdings hatte er Angst, Spuren zu
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