Eisige Naehe
Er warf einen Blick zurück zur Straße, wo jedoch niemand Notiz von ihm und Santos nahm. Sie gingen die gut zwanzig Meter bis zum Haus, auch hier war die Tür nur angelehnt.
»Wir sind nicht geleimt worden«, sagte Santos mit belegter Stimme, während sie die Tür aufmachte. »Da wirst du wohl recht haben«, sagte Henning trocken, während sie sich im großen Flur die Latexhandschuhe anzogen. Henning drückte eine Tür auf, doch die dahinterliegende Gästetoilette war leer, der Duft von Lavendel strömte ihnen entgegen.
Sie betraten das Wohnzimmer, blieben jedoch gleich an der Tür stehen. Für einen Moment stockte ihnen der Atem. Der sich ihnen bietende Anblick war makaber und Ausdruck eines morbiden Humors.
»Verdammte Scheiße, was ist das denn? Ich dachte, es geht nur um Bruhns«, stieß Henning hervor. »Was macht die Frau hier?«
»Sören, ich weiß es nicht.«
»Das ist der absolute Wahnsinn. Wer immer das getan hat, muss total durchgeknallt sein. Oder er spielt ein verdammtes Scheißspiel mit uns.«
»Sowohl als auch.« Santos bewegte sich auf die beiden Toten zu. Sie kniff die Augen zusammen, alles in ihr vibrierte, gleichzeitig kroch eine eisige Kälte in ihr hoch, obwohl es in dem Haus recht warm war. Sie schluckte schwer, als sie etwa einen Meter vor der jungen Frau und Bruhns stand und die gespenstische Szene auf sich wirken ließ. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Santos leise. »Ich glaube, so was hat noch nie einer aus unserer Abteilung gesehen«, meinte Henning mit kehliger Stimme und trat neben seine Partnerin.
Bruhns hing lässig, fast entspannt in der Ecke der riesigen beigefarbenen Ledercouch, die Beine ausgestreckt und leicht gespreizt, die Augen geöffnet, die weißen Zähne blitzten durch die schmalen Lippen, als wäre er nicht mehr dazu gekommen, den Mund zu schließen. Ein beinahe surrealistisches Bild.
»Sieht fast so aus, als würde er grinsen«, bemerkte Lisa und ließ die Szene noch eine ganze Weile auf sich wirken. »Nur der hässliche rote Fleck auf seiner Stirn passt nicht dazu. Ich glaube nicht, dass er darüber gelacht hat, obwohl ich ihm eigentlich alles zutraue.« Sie trat näher auf die junge Frau zu, die auf dem Boden vor Bruhns kniete, die linke Hand auf Bruhns' rechtem Oberschenkel, die andere in seinem Schritt, ihre Finger umfassten seinen Penis. Bis auf den schwarzen Minislip war sie nackt, Bruhns hingegen bis auf das weiße Jackett, das vor dem Kamin lag, vollständig angezogen, lediglich sein rotes Rüschenhemd stand bis zum Bauchnabel offen, genau wie der Reißverschluss seiner Hose, aus der sein Penis heraushing, fest umgriffen von der kalten Hand der Unbekannten.
Die ganze Szene wirkte gestellt, die Toten erinnerten an Wachsfiguren, nach einem realen Abbild von Menschenhand geformt, oder an menschliche Puppen, denen befohlen worden war, in absoluter Regungslosigkeit zu verharren. Und doch waren es Menschen, die vor kurzem noch gelebt hatten, Menschen, die, wie es aussah, eine heiße Nacht miteinander hatten verbringen wollen. Ein neunundvierzigjähriger, über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Komponist und Produzent und eine vielleicht achtzehn- bis zwanzigjährige junge Frau mit einem sündhaft schönen Körper. Lange blonde Haare, sehr schlank, doch mit ausgeprägter Oberweite. Eine mit all jenen äußeren Attributen ausgestattete blutjunge Schönheit, wie Bruhns sie liebte und, wenn man den Medien glauben konnte, verschliss. Eine nach der anderen, sie kamen und gingen, er nahm sie und warf sie wieder weg. Alle wussten es, und alle duldeten es, weil es heutzutage fast normal war, wenn ältere Männer sich mit Frauen vergnügten, die ihre Töchter oder gar Enkeltöchter hätten sein können. Es verschaffte Bruhns Anerkennung, aber auch Neid. Natürlich war das auch die Schuld der jungen Frauen, die sich ihm an den Hals warfen. Bruhns nahm sich nur, was sich ihm anbot, und es waren Heerscharen, die sich ihm wie Huren verkauften. Eine Zeitung hatte unlängst geschrieben, ein bekannter deutscher Musikproduzent (der Name wurde nicht genannt, doch jeder wusste aufgrund der Beschreibung, dass Bruhns gemeint war) liebe es, sich mit jungen Mädchen zu vergnügen, die nur zu gerne bereit seien, sich für ihn zu prostituieren. Er hatte eine Klage gegen die Zeitung wegen Rufmords angestrebt, die Verhandlung hätte demnächst stattfinden sollen. Er fühlte sich verunglimpft, in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Aber auch das war Bruhns, ein
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