Eisige Naehe
»Ich will nichts von Ihnen, das heißt, noch nichts. Warum ich ausgerechnet Sie ausgewählt habe, das werden Sie noch erfahren. Sie sind eine sehr gute und engagierte Polizistin, und Ihren Kollegen schätze ich ebenfalls, ich habe jedenfalls schon viel Gutes über Sie gehört. Vielleicht habe ich Sie deshalb erwählt? Nun verabschiede ich mich und wünsche Ihnen viel Erfolg bei den Ermittlungen, wobei ich fürchte, dass Sie sich erst mal im Kreis drehen werden. Schade. Nun, ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Tschüs.«
»Sie verdammtes Arschloch!«, schrie Santos ins Telefon, doch der Anrufer hatte längst aufgelegt. »Was hat er diesmal gewollt?«, fragte Henning. »Er will uns demnächst wissen lassen, warum er ausgerechnet uns ausgewählt hat. Er hält uns beide für sehr fähige Polizisten -, nur, um im nächsten Satz hinzuzufügen, dass wir uns bei unseren Ermittlungen erst mal im Kreis drehen werden.«
»Okay, dann werden wir diesem Bastard das Gegenteil beweisen. Gnade ihm Gott, wenn ich ihn in die Finger kriege ...«
Ein Beamter, den sein Namensschild als Hinrichsen auswies, betrat den Raum, gefolgt von fünf Beamten der Spurensicherung und Professor Jürgens von der Rechtsmedizin.
»Tag«, begrüßte Hinrichsen Henning und Santos mit sonorer Stimme. Er war ein Riese, mindestens zwei Meter groß und recht stämmig, allein durch seine mächtige Statur respekteinflößend. »Meine Kollegen und ich sollen einen Tatort absichern?«
»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Henning, sah auf die Uhr und fuhr fort: »Sie haben aber ziemlich lange gebraucht, ich dachte, Sie wären in zwei oder drei Minuten hier.«
»Tut mir leid, aber wir kommen aus Heikendorf und hatten dort noch einen längeren Einsatz. Häusliche Gewalt, wir mussten den Typen mit vier Mann abtransportieren ...« »Schon gut.«
»Das ist ja Bruhns«, stieß Hinrichsen ungläubig hervor, als er die Leichen genauer betrachtete, und zog die Stirn in Falten. »Der war doch gestern noch im Fernsehen. Meine Frau und ich haben's zufällig gesehen«, sagte er und lief im selben Atemzug rot an. »Sie brauchen nicht verlegen zu werden, Millionen gucken sich diesen Schrott an«, entgegnete Henning trocken. »Was war das überhaupt für eine Sendung, und wo wurde sie aufgezeichnet?«
»Das war keine Aufzeichnung, es war live. Soweit ich weiß, wird sie in Hamburg produziert, ich bin mir aber nicht ganz sicher. Meine Frau könnte Ihnen das ganz genau sagen.«
»Das finden wir auch so raus. Okay, er war also gestern Abend noch live im Studio. Worum ging's da?« »So 'ne Castingshow, wo Gesangstalente gesucht werden. So was Ähnliches wie DSDS, aber nicht so gut gemacht. Bohlen ist ja ganz witzig, aber Bruhns ist... wie soll ich's ausdrücken ... zynisch, ja, er ist zynisch und verhöhnt die Kandidaten. Ich find's nicht witzig, doch es gibt wohl genug Leute, die sich ihn als Vorbild nehmen. Ich sag nur, der Niedergang der Gesellschaft.«
»Ich gehe mal davon aus, dass Sie diese Show öfter sehen, und als Polizist haben Sie gewiss ein Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmt. Was für einen Eindruck hatten Sie gestern von ihm? Wirkte er anders als sonst?« Hinrichsen wurde erneut rot, weil er nicht genau wusste, wie er Hennings Bemerkung interpretieren sollte, und kratzte sich am Kopf, bevor er achselzuckend antwortete: »Keine Ahnung, ich denke mal, er war wie immer. Ich habe allerdings auch nicht besonders darauf geachtet, ich habe nebenbei noch was gelesen und bin auch ab und zu mal aus dem Zimmer raus. Aber er hat dieselben Klamotten angehabt«, sagte er und deutete auf Bruhns. »Ich habe noch zu meiner Frau gesagt, dass er wieder mal unmöglich aussieht. Ich meine, wer läuft heute noch mit einem quietschroten Rüschenhemd und einem weißen Anzug rum? Und dazu rote Stiefel. Passt irgendwie nicht zu einem Mann in seinem Alter. Ist aber nur meine unwesentliche Meinung.« »Wie lange ging die Sendung?«
»Halb zehn, Viertel vor zehn, war so eine Art Vorausscheidung, am nächsten Samstag geht's dann richtig los.« »Hm. Danach ist er hierhergefahren, wollte sich eine nette Nacht mit seiner Geliebten machen und dann? Was ist dann passiert? ... Danke, Herr Hinrichsen, Sie haben uns sehr geholfen, wenn noch etwas ist, rufe ich Sie.« »Selbstverständlich«, sagte Hinrichsen und wollte bereits hinausgehen, als Hennings Stimme ihn zurückhielt: »Wie sieht's denn draußen aus?«
»Ruhig. Aber das wird sich wohl bald ändern, wenn die Leute
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